Referat zu Christoph Martin Wielands „Geschichte des Agathon“. (KV III)

© Josef G. Pichler 1998


Ich möchte mit einem Blick auf die Entwicklung des Romans als literarische Gattung in der ersten Hälfte des 18. Jhdts. beginnen. Dabei erhebe ich keinen Anspruch auf Vollständigkeit, es geht darum einen allgemeinen Trend zu zeichnen, vor dem dann Wielands Leistung umso deutlicher zutage tritt.

Um 1700 betrug der Anteil von Romanen an der gesamten Buchproduktion nicht einmal ein Prozent. Die vorhandenen Romane sofern sie nicht ohnedies Übersetzungen sind, orientie-ren sich an westeuropäischen Vorbildern.(Madelaine de Scudery, Honore d' Urfe)

Bis etwa 1720 beherrscht der sogenannte galante Roman den bescheidenen Markt. Der Titel ist zugleich Programm. Ein Beispiel aus dem Jahr 1708:

Die unglückselige Atlanta, oder Der schönen Armenianerin Lebens- und Liebesbeschreibung in einem asiatischen Heldenge-dicht. Der galanten Welt zu erlaubter Gemüts-Belustigung aufgesetzet von Meleaton.

Der Galante Roman bzw. deren Autoren bezogen sich auf die Tradition des höfisch-historischen Barockromans, wobei dessen Absolutheitsanspruch der höfischen Ethik, der überpersönlich-politische Sinn der abgehandelten Liebesgeschichte nicht aufrechterhalten wurde.

Scharfe Kritik an diesen Romanen kam von Kirchlicher Seite, und zwar konfessionsüberschreitend. (Christian Gerber, prot. Pfarrer / Gotthard Heidegger, Calvinist, Zürich)

Kritikpunkte waren die dargestellten Liebesverhältnisse, die Zeitverschwendung, die Lügengeschichten. Die Romane erschienen unter Pseudonym und mit fingierten Verlagsangaben.

In den 20er Jahren begann sich ein anderer Romantyp durchzusetzen, der Abenteuerroman. Auch hier ein Titel als Beispiel (aus 1722):

Der sächsische Robinson, oder Wilhelm Retchirs, eines gebohrnen Sachsens, wahrhafftige Beschreibung seiner in die acht und zwanzig Jahr von Leipzig aus, durch Holland, Engelland, Frankreich, Spanien, Portugal, die Barberey, Griechenland, Servien und Ungarn gethaner Reisen, wobei er vielen wunderbaren Glücks- und Unglücksfällen, zweymal durch Schiffbruch, auch sonsten denen äußersten Lebens-Gefahren unterworffen gewesen, wovon ihn aber die vorsorge des Höchsten allezeit glücklich errettet, und endlich gesund in sein Vaterland zurückgebracht, von ihm selbst ans Licht gegeben. Mit darzu dienlichen Kupferstichen.


Es fallen auf: Die Wahrheitsbeteuerung, der Vorgeschmack der abenteuerlichen Handlung, die christliche Interpretation des Geschehens, und natürlich die Bezugnahme auf William Defoe's "Robinson Crusoe", der 1720 aus dem Englischen übersetzt, gleich von fünf deutschen Verlagen herausgegeben wurde, und eine Flut von "Robinsonaden" auslöste.

Im Abenteuerroman wird der Bürger zum Romanhelden, anstelle von exotischen Prinzen und Prinzessinnen. Auch die Erzählweise muss sich ändern. Die detailgenaue Beschreibung von Städten, Landschaften, Gegenständen, genaue Orts- und Zeitangaben, auch Kleinigkeiten wie der (reale) Preis eines Pferdes, widersetzt sich einer rhetorisch geschliffenen Sprache, und unterstützt auch noch die Wahrheitsfiktion, die der Autor erzeugt.

Der Held sucht seine Abenteuer nicht, um sich sittlich zu bewähren, sondern wird in sie verstrickt und bleibt Passiv. Hilfe kommt immer von außen, letzten Endes vom "Höchsten" selbst. Die abenteuerliche Handlung und die behauptete Wahrhaftigkeit dienen einem christlich-erbaulichen Zweck.(Abenteuerroman = säkularisierte Erbauungsliteratur)

Dazu kommt noch die Annäherung an die als nützlich angesehene geographische Fachliteratur, die sog. historisch-merkatorisch-geographischen Beschreibungen. Die durchreisten Landschaften und Städte, aber auch dortige Sitten und Handelsgebräuche wurden objektiv nach damaligem Wissensstand, und nicht aus der subjektiven Sicht der Helden beschrieben.

Aus alledem ergab sich eine breitere Akzeptanz im Bürgertum, sogar Identifikationsmöglichkeiten, und der kirchlichen Kritik wurden Ansatzpunkte genommen.


In den 20er Jahren des 17. Jahrhunderts begann mit dem Aufkommen der Moralischen Wochenschriften eine Entwicklung, die, vereinfacht ausgedrückt, die religiösen Ideale im Sinne der Aufklärung in Moral, in praktische Sittenlehre umwandelte.

Auch von dieser Seite kam zunächst Kritik an den Romanen, vor allem am galanten Roman. Man stieß sich an der Überbetonung der Liebe im Leben, an Oberflächlichkeit, Müßiggang, also an den Eigenschaften, die man den Adeligen zuschrieb, und die der sittenstrengen, auf Vernunft und Nützlichkeit beruhenden Vorstellung einer bürgerlichen Gemeinschaft widersprach.

Wenn aber ein Roman nach Meinung der Herausgeber der Wochenschriften "mit Vernunft" geschrieben war, nicht nur angenehmen Zeitvertreib bedeutete, sondern auch auf so manche nützliche Betrachtung führte, ließen sie sich sogar zu einer Empfehlung herab.

In diese Kerbe schlägt nun, bildlich gesprochen, der "moralische Tendenzroman".

Nach französischen Vorbildern (Abbé Prèvost), aber vor allem in Folge des 1742 in deutscher Übersetzung erschienenen Romans "Pamela or virtue rewarded" von Samuel Richardson.

Der Tenor dieser Romane klingt Banal: Tugend wird belohnt, Laster wird bestraft. Aber wie das dargestellt wurde, entsprach eigentlich auch den Zielsetzungen der moralischen Wochenblätter.

Tugend meinte hier nicht bloße Frömmigkeit und Gottvertrauen, sondern sittlich richtiges Verhalten im bürgerlichen Sinn. Dieses ist lehr- und lernbar. Die Erziehung bildet die Basis für sittlich richtiges Verhalten, die Geschichte der Hauptfiguren in den Romanen wurde bis in die Kindheit zurückverfolgt.

Dabei konnten die Grundsätze der Kindererziehung, Anleitungen zu Familien- und Eheglück oder das richtige Benehmen in Gesellschaft vom Leser durchaus in den eigenen Lebensbereich übertragen werden.

In die Romane floss zwar zum Teil das Repertoire der Abenteuerromane ein, Die Wirklichkeitsfiktion wurde aufrechterhalten, z.B. fiktive Autobiographie, die äußere Handlung trat aber in den Hintergrund, und wurde gleichsam zum "Abenteuer der Seele" der jeweiligen Romanhelden und Heldinnen.

Nicht eine passive anima christiana naturaliter wurde hier durch göttliche Fügung aus allen Wirren befreit und am Ende belohnt, sondern eine zur Tugend erzogene Person geriet in Konfrontation mit der bedrohlichen Welt (die adelige Welt), und bewies Standhaftigkeit. Freilich manchmal auch nach dem Motto: lieber tot als entehrt, was aber auch als Sieg der Tugend gesehen wurde.

Die Schilderung der Seelenvorgänge in existentiellen Situationen bediente auch ein steigendes Interesse am Individuum.

Die Figurenkonstellation allerdings malte schwarz-weiß. Tugendbold versus Bösewichter, letztere immer von Adel und oft Stadtbewohner. Die bürgerliche Tugend wohnte anscheinend auf dem Land, abseits der höfischen Sündenpfuhle.

Durch die Kombination von praktischen Tips, Seelenergießungen und bürgerlicher Moral erschlossen sich diesen Romanen weitere Kreise des gebildeten Bürgertums, was sich durch ansteigende Produktionszahlen ausdrückte, und auch dadurch, dass in den 30er Jahren in den gelehrten Wochenschriften regelmäßig Romanrezensionen eingeschaltet wurden (Frankfurter gelehrte Zeitung). Dabei wurde vor allem die moralische Nützlichkeit zum Kriterium eines guten Romans, und wog schwerer als ein Verstoß gegen die Wahrscheinlichkeit - wenn z.B. ein einfaches Mädchen komplexe philosophische Reflexionen anstellte.

Mit der Zeit gerieten die Rezensionen differenzierter, und es wurde auch Augenmerk auf die Wahrscheinlichkeit der Umstände und der Charaktere gelegt (damit meinte man dass die Redeweise ihrem Stand, ihrer Bildung entsprach, aber es werden noch einheitliche Charaktere gefordert, die so ausgeführt werden sollten, wie sie angefangen wurden. Und auch der Unterhaltungsfaktor kam ins Spiel, Teile des Bürgertums schienen also schon soviel Muße zu haben, dass Romanlesen nicht mehr nur Zeitverschwendung bedeutete.

In den 1740er und 50er Jahren hat sich also ein Bündel an Forderungen an einen guten Roman ergeben:

> Klarer, übersichtlicher Aufbau.

> Handlung natürlich und unterhaltsam.

> feinfühlige Darstellung der Seelischen Vorgänge.

> Moral nicht aufgesetzt, sondern in die Handlung integriert.

Ergänzt wurde das noch durch den Ruf nach dem "Deutschen Originalroman". Deutsch sollte der Verfasser, die Figuren, die Sitten und Schauplätze, kurz: alles sein.

Daran zeigt sich vielleicht am deutlichsten, in welchem Maß nun auch der Roman als Kunstform im Sinn der Aufklärung funktionalisierbar geworden ist.


So wie sich die Situation des Romans im Praktischen Bereich verändert - steigende Produktion, breitere Akzeptanz im Publikum - so verändert sich auch die theoretische Situation.

Im deutschen Raum lief die theoretische Diskussion zunächst über die Rezensionen in den Zeitschriften. Ich zitiere Gottsched aus einer Rezension in den "Beiträgen zur critischen Historie der deutschen Sprache" aus dem Jahr 1733: Ein Roman ist zwar, insoferne er als ein Gedichte angesehen wird, mit unter die Gattungen der Poesie zu rechnen, er erlangt aber bey derselbn nur eine von den untersten Stellen". Derselbe Satz steht schon in seiner "Critischen Dichtkunst" von 1730. Der künstlerische Rang wird von Gottsched also gering eingeschätzt. Hauptargument war die Diskrepanz zwischen den ausufernden Schilderungen der seltsamsten Dinge und Vorkommnisse in gewissen Romanen und der Forderung, Dichtung habe eine VERNÜNFTIGE Nachahmung der Natur zu sein.

Dahinter steckt eine philosophisch-rational abgeleitete Vorstellung von Mimesis, die das Kausalitätsprinzip und den Satz vom zureichenden Grund an die literarische Produktion anlegt. In der selben Rezension bestimmt Gottsched als Hauptzweck eines Romans: "Dass er dem Leser allezeit die Tugend belohnt, und die Laster bestraft vorstelle".

Bei Johann Jakob Bodmer kommt wieder der Poet als "Schöpfer einer neuen, idealischen Welt" ins Spiel, der zwar der Nachahmung der Natur in dem Sinn verpflichtet ist, als er dem allgemeinen Lauf der Natur in ihrer Gesetzlichkeit folgt, sich aber über historische Realität hinwegsetzen kann, indem er das noch nicht zur Wirklichkeit gekommene, das Mögliche, darstellt. In den "Critischen Betrachtungen über die poetischen Gemälde der Dichter" (1741) billigte er übrigens der historischen Realität, im Gegensatz zur poetischen, nur ein höheres Maß an Wahrscheinlichkeit zu, weit entfernt von mathematisch-naturwissenschaftlicher Wahrheit.

Bodmer interpretierte Cervantes Don Quichote, der immer als Satire gelesen wurde, neu, und meinte, hier werde ein wahrer Mensch gezeigt, weil sich in ihm eine allgemeine psychologische, anthropologische und soziologische Gesetzlichkeit konkretisiert. (Es entspricht empirischer Erfahrung, dass es Menschen mit ausufernder Einbildungskraft gibt, und die Abenteuer sind dann logische und konsequente Folge derselben, sind so gesehen wahrscheinlich.)

Auch Lessing verfasste Romanrezensionen, für die "Berliner Priviligierte Staats- und gelehrte Zeitung" zwischen 1751 und 1754. Er lobte Beispielsweise einen Roman, dessen Held "ein Mensch" sei, und kein Wesen der Vorstellung. Während Gottsched noch in der 4. Auflage der "Critischen Dichtkunst 1751 einheitliche Charaktere verlangte, hielt Lessing es für didaktisch klüger, den Helden vom Laster zur Tugend zu führen, als ihn eher unwirklich tugendhaft vom Anfang bis zum Ende darzustellen - Der Gemischte Charakter wird gefordert, und nicht "Ideale Gespenster", wie Herder diese tugendhaften Helden später genannt hat.


Über das Ziel, die Erziehung zu bürgerlicher Sittlichkeit, war man sich einig, nur wie das gehen sollte, darüber gab es Auffassungsunterschiede.

Auf der einen Seite steht die Forderung nach den einheitlichen Charakteren, die beispielgebend zur Nachahmung anhalten sollten, noch verstärkt durch die abschreckende Wirkung einer Darstellung der Folgen lasterhaften Verhaltens. Auf der anderen Seite sollten psychologisch differenziertere Figuren durch Erfahrung von Tugend UND Laster den Wert der Tugend erkennen und so zu vernünftigem Handeln kommen.

Der philosophische Hintergrund liegt in den Differenzen von rationalistischer und empiristischer Anschauungen. Die Rationalisten (wie Gottsched) gingen davon aus, dass die Verstandeskräfte unbegrenzt sind, und sich mit deren Hilfe die Dinge aus sich selbst heraus erklären lassen. Eine vernünftig aufgebaute Welt leuchtet dem vernünftigen Menschen unmittelbar ein. Demgegenüber steht das Postulat des Empiristen John Locke:

nihil est in intellectu, quod non prius fuerit in sensu

dass also nichts im Verstand sei, was nicht vorher in den Sinnen war. Aus Erfahrung wird man klug - und erst die innere, verstandesmäßige Reflexion äußerlicher Sinneswahrnehmung ergibt Erkenntnis. Beiden Standpunkten gemeinsam ist die Betonung des Individuums für den Erkenntnisprozess.

Auch bei der Auslegung des Mimesis-Begriffs gab es, wie schon erwähnt, Differenzen.

Damit sind nun auch die wesentlichen theoretischen Standpunkte genannt. Aber noch etwas ist bisher unerwähnt geblieben: Die allgegenwärtige Zensur, ausgeübt von eigenen Behörden. Die Konsistorien in denen adelige Politiker und Theologen saßen, sollten nichtkonforme bzw. unkontrollierte Meinungsbildung durch Vor- oder Nachzensur verhindern.

Als Gegenstrategie erschienen Die Romane anonym, unter Pseudonym, mit fingierten Verlagsangaben. Auch die Herausgeberfiktion, vor allem das Verlegen der Handlung in fremde Länder oder vergangene Zeiten ist unter diesem Gesichtspunkt zu sehen.

Mit alledem musste sich Wieland auch auseinander setzen, als er zwischen 1761 und 1767 an der ersten Fassung seiner Geschichte des Agathon schrieb, und er ging dabei äußerst innovativ vor.


Zunächst greift er schon Bekanntes auf: Die Herausgeberfiktion, das alte Dokument, das zufällig in seine Hände geraten sei, die Handlung spielt in der griechischen Antike, der Held reist, oder wird zu Reisen gezwungen (entführt), aber die Reisen bedeuten nicht dessen Verstrickung in eine abenteuerliche Handlung, sondern die inneren Zustände geraten ins Zentrum der Betrachtungen. An verschiedenen Orten wird Agathon mit Personen oder Haltungen konfrontiert die nicht seinen Idealen entsprechen. Auch der Trick, den Einblick in die innersten Bewegungen der Seele Agathons durch ein von diesem verfasstes Tagebuch zu erklären, ist nicht neu.

Aber schon im ersten Satz des Vorberichts spielt Wieland ironisch mit der Herausgeberfiktion. Das glaubt ohnehin keiner, aber eigentlich ist es egal, läßt er den fiktiven Herausgeber sinngemäß sagen, um gleich darauf die Wirklichkeitsfiktion scheinbar zu untermauern, mit dem Hinweis auf einen historischen Agathon (ein Komödiendichter zur Zeit Platons).

Der nächste Punkt ist die poetische Wahrheit, die Wahrscheinlichkeit der Umstände und der Charaktere, die wirkliche Menschen darstellen sollen, wie es sie zu allen Zeiten gibt. Nicht willkürlich konstruierte Chimären, sondern den inneren Möglichkeiten eines Menschen, und den geschilderten äußeren Umständen entsprechende Individuen.

Auch diese äußeren Umstände sind nicht einfach erfunden, sie entsprechen realen historisch-gesellschaftlichen Entwicklungen. Wie - für die damalige Zeit unerhört - gemischt die Charaktere sind, stellt sich dann später heraus.

Der fiktive Herausgeber rechtfertigt sich im voraus gegen Einwände, Agathon nicht tugendhaft genug dargestellt zu haben, und meint, da die Welt voll von Sittenlehren, sei, könne sich jeder, wenn er will, einen von der Wiege bis zum Grab tugendhaften Menschen vorstellen, dazu im Gegensatz entspreche Agathon einem wirklichen Menschen, der es wert sei, "In mannigfaltigem Licht von allen Seiten betrachtet zu werden". Was ja voraussetzt, dass er verschiedene Seiten überhaupt hat, bzw. entwickelt.

Weiters verwahrt er sich auch dagegen, den Sophismus des Hippias nicht genügend in die Schranken gewiesen zu haben, wobei Wieland sich auf eine zunächst vom Verlag ohne sein Wissen eingeschobene Anmerkung bezieht: In einer Fußnote zum Vorwort werden die LeserInnen in dem Sinn „beruhigt“, dass an gegebener Stelle die antike Denkweise schon gehörig zugunsten der christlichen Moral verteufelt werden wird.

Dass das ziemlich übertrieben ist, stellt sich auch im Lauf der Lektüre heraus. Übrigens wird der Roman auch prompt in Zürich und Wien ein Opfer der Vorzensur, und wird schon 1763 verboten, als der Verleger die ersten Teile des Manuskripts erhalten hatte.

Der Leser wird darauf verwiesen, erst nach Kenntnis der ganzen Geschichte, diese richtig beurteilen zu können.

Überhaupt wird hier der Leser schon gleich in der Vorrede auf eine neue Art miteinbezogen, indem ihm kein geringer Anteil am Gelingen des Romanprojekts zugeteilt wird. Der "schlechte Leser" kann sich natürlich an den Schilderungen erotischer Begegnungen begeilen, oder aus dem System des Hippias eine Rechtfertigung seines eigenen lasterhaften Lebens und Unglaubens ziehen, während der "gute Leser" aus dem Gesamtzusammenhang erkennt, dass nichts grundlos angeführt wird, und alles im Licht der Entwicklung Agathons erst seinen wahren Stellenwert erhält.

Hier berichtet kein eindimensionaler, scheinbar objektiver Erzähler einem passiven Leser, sondern dieser wird in die Geschichte hineingezogen. Durch direkte Ansprache wird er immer wieder aufgefordert, selbst nachzudenken, die erzählte Geschichte, die Erzählerposition und seine eigene Haltung dazu, zu reflektieren.

"Wie? ruffen hier einige Leser, schon wieder Betrachtungen? Allerdings, meine Herren, und in seiner Position würde es ihm nicht zu vergeben seyn, wenn er keine angestellt hätte. Desto schlimmer für euch, wenn ihr, bei gewissen Gelegenheiten, nicht so gerne mit euch selbst redet, als Agathon: vielleicht würdet ihr sehr wohl thun, ihm diese kleine Gewohnheit abzulernen".

So hört sich das bei Wieland an, oder an anderer Stelle:

"Wir machen hier eine kleine Pause um dem Leser Zeit zu lassen, dasjenige zu überlegen, was er selbst in diesem Augenblick für oder wider unseren Helden zu sagen hat."

Worauf zwei alternative Überlegungen angeführt werden, die verschiedene Leser haben könnten, dann die Überlegung des Erzählers, so im Sinn von: Na ja, die Leser habens leicht, wir hingegen in unserer Verantwortung als Herausgeber ...usw.

Der Leichtigkeit dieser ironischen Distanz dem Helden, der Geschichte und dem fiktiven Leser gegenüber, liegt etwas zugrunde, was auch schon im Vorbericht erwähnt wird:

Da er selbst (der Hrsg.) gewiss zu sein wünschte, dass er der Welt keine Hirngespenster für Wahrheit verkaufe, so liest man, wählte er denjenigen Charakter, den er am genauesten kennenzulernen Gelegenheit gehabt hat. - Das heißt, Wieland schöpft aus sich selbst. Und zwar nicht nur aus seiner großen Belesenheit, die ihn die antike und die zeitgenössische europäische Literatur präsent haben lässt, sondern auch aus seinen persönlichsten Erfahrungen.

Der autobiographische Bezug ist hier nicht Teil einer Wirklichkeitsfiktion, sondern wird verstellt durch die erzählte Geschichte, hat aber in der Person des Autors einen umso realeren Hintergrund.

Wer ist nun dieser Agathon?

Lässt man die Warnung des Vorberichts vor allzuschnellem Urteil außer Acht, tritt er zunächst als weltfremder Schwärmer auf, den ein schöner Sonnenuntergang sofort vergessen lässt, dass er sich orientierungslos mitten in der Wildnis befindet, nachdem er seiner Freunde, seines Vaterlandes und seines Vermögens beraubt worden ist. Nicht stoischer Gleichmut, sondern pietistische Schwärmerei leitet seine Empfindungen. Die Schönheit seiner Seele drückt sich auch in makelloser körperlicher Schönheit aus. Und er wird vorderhand auch belohnt für seine Tugend, die ihn angesichts einer entfesselten Gruppe junger Frauen, ihrer frechen Stellungen und zudringlicher Liebkosungen nur Ekel empfinden lässt. Die Umstände retten seine Unschuld, alle zusammen werden von Piraten entführt. Er darf auch seine Seelenfreundin Psyche wiedersehen, und es sind ihnen einige Stunden vergönnt, in denen sie sich einander von ihrer ewigen Liebe und Treue was vorschwärmen dürfen.

Wie aber in weiterer Folge dieser Tugendbold demontiert wird, konnte oberflächlich betrachtet schon als schwerer Angriff auf die bürgerlichen Moralvorstellungen gewertet werden. Oder besser gesagt auf die bürgerliche Doppelmoral, die es durchaus erlaubte, moralische Verfehlungen bis hin zu Inzest und Sodomie drastisch darzustellen, wenn dann nur den Übeltätern als gerechte Strafe vom lieben Gott die Beulenpest an den Hals geschickt wurde.

Agathon bleibt vorerst standhaft, auch im Haus des Lebemannes Hippias in Smyrna, wohin er als Sklave verkauft wird. Er bekommt zwar fallweise Stilaugen beim Anblick leichtbekleideter hübscher Mädchen, und neigt zum Erröten, was auch auf einige innere Bewegung schließen lässt, aber die Bilder seiner Einbildungskraft (so etwas wie schweben auf einer Wolke und "Halleluja" singen) sind ihm allemal wertvoller als alle sinnliche Wahrnehmung.

Auch als ihn Hippias mit aller Überredungskunst für sein hedonistisches Denksystem einnehmen will, weicht Agathon nicht von seinem Grundsatz ab, zwischen einem mechanischen Instinkt, der, wie er sagt, nicht gänzlich von ihm abhängt, und dem Willen der Seele zu unterscheiden, der ihn diesen Instinkt im Zaum halten lässt, und die Ideale des Schönen und Guten über alles stellt. Dem Leser drängt sich irgendwie der Eindruck auf, dass weder Agathon noch Hippias ganz recht oder ganz unrecht haben, dass die Mitte zwischen beiden Standpunkten realistischer menschlicher Lebenspraxis entspricht.

Hippias fühlt sich jedenfalls herausgefordert und setzt Danae auf Agathon an.

Diese ist erst recht der personifizierte Affront gegen alle bürgerlichen Moralvorstellungen. Nicht nur dass sie eine Kurtisane ist, repräsentiert sie auch einen selbstbewusst-selbstständigen Frauentyp, wie er in deutschen Landen Mitte des 18. Jahrhunderts wohl unvorstellbar ist. Sehr klug ist sie auch noch, sie durchschaut Agathon und erkennt, dass sie ihn nur mit Hilfe seiner Einbildungskraft, und nicht nur mit ihren sinnlichen Reizen einfangen kann. Sie wiegt ihn in moralischer Sicherheit, und kann ihn durch ihre Klugheit, ihren Schönheitssinn, durch ihr ganzes Wesen, und schon auch durch ihre körperlichen Reize, mehr von sich einnehmen, als Agathon sich ursprünglich denkt. Und sie spielt ihm was vor: Eine Szene mit mythologischem Hintergrund, Agathons Seele ist ergriffen, er sinkt an ihr Lager, küsst ihre Hand und ... ja, und soll sich erst nach Tagesanbruch, mit einer Miene aus welcher sich vieles habe schließen lassen, vom Ort des Geschehens weggestohlen haben.

Es folgt ein Kapitel mit der Überschrift: "Nachrichten zur Verhütung eines besorglichen Mißverstandes".

Aha, denkt sich der brave Bürger, vielleicht hat er wirklich nur ihre Hand geküsst, und ist ein bisschen enttäuscht, aber zufrieden mit dem tugendhaften Helden. Aber er hat nicht mit Wieland gerechnet. Es beginnt harmlos, mit der Bemerkung, ein Autor tue ganz recht, wenn er sich in solchen intimen Momenten diskret zurückzieht. Wenn das aber zu Missverständnis und Irrtum führt (womit die ausschweifende Phantasie der Leser gemeint sein könnte) muss sich der Autor dem stellen, und klipp und klar sagen - dass die Phantasie des Lesers sich nicht getäuscht hat. Natürlich haben sich Agathon und Danae allen sexuellen Freuden hingegeben (die Dame kennt sich schließlich aus), und als das klargestellt ist, zieht sich der Autor diskret zurück.

In schönster dialektischer Bewegung wird nun gezeigt, wie beide Beteiligten sich verändern, und nicht zu ihrem Nachteil. Durch die erotisch- körperliche Komponente der Liebe erfährt Agathon eine neue Dimension wirklichen menschlichen Daseins, genau wie Danae durch die für sie neue geistig-seelische Komponente. Es wird zwar den Lesern listig die Aufgabe gestellt, selbst zu entscheiden, wer von den beiden gewonnen, und wer verloren hat, man kann aber nur das Resümee ziehen, beide haben gewonnen.

Die Liebe in all ihren Ausprägungen, auch in ihrer sexuellen, ist ein positiver konstituierender Aspekt des Menschseins.

Nachdem schon Hippias nicht nur absolut negativ gezeichnet wird, er wird auch durchgehend mit "der weise Hippias" betitelt, wird auch Danae, die unmoralische Person, zu einer liebenden und liebenswürdigen Kreatur.

Aber wie das so ist mit dialektischer Bewegung, einmal angefangen, kommt sie nicht mehr zum Stillstand, Agathon erinnert sich wieder seiner Freundin Psyche und zweifelt. In dieser Stimmung erzählt er Danae seine Jugendgeschichte und reflektiert zugleich seine bisherigen Erfahrungen, mit dem Ergebnis dass sich die Liebe zu Danae verfestigt. Man erfährt die Umstände von Agathons Sozialisation. Schwere Zeiten für Wielands Zeitgenossen, denn die Geschichte Agathons enthält neben massiv religionskritischen Ansätzen auch einiges an politischer Brisanz, und so zeitlos, dass sich mühelos die Verbindung zu im 18. Jahrhundert - und nicht nur dort - aktuellen gesellschaftlichen Belangen herstellen lässt.

Doch die Flucht aus dem delphischen Tempel gelingt, und führt direkt ins politische Leben. Seine wiedergefundene bürgerliche Identität, gibt Agathon die Möglichkeit, sich an promi-nenter Stelle in der Republik von Athen zu exponieren.

Erklärtes Ziel dabei ist, seine sittlichen Ideale auf die Einrichtung und Verwaltung eines politischen Gemeinwesens zu übertragen. Auch eine besondere Leistung Wielands, der hier seinen Helden aus der Privatheit sittlich-moralischer Betrachtung und Entwicklung hinausführt in die politische Öffentlichkeit, aus der sich das deutsche Bürgertum, natürlich auch behindert an wirklicher Machtausübung, zunehmend zurückzieht, sofern es überhaupt je drinnen war (Vgl.:England).

Die atheniensische Republik wird nicht als Ideal geschildert. Die Bürger von Athen lassen sich zur Wahrheit wie zu falscher Staatskunst überreden, und zwar weil ihnen die Staatsform egal ist, wenn es ihnen persönlich nur gut geht.

Agathon, der Idealist, glaubt an den Vorteil seiner politischen Theorie, weil sie vom Bürger nur eines verlangt: Die Aufopferung seiner Vorurteile und solcher Leidenschaften, welche die Ursache allen Privatelends sind. Wie gesagt, ein Idealist. Er muss aber schnell lernen, dass nicht die guten politischen und sittlichen Ideen an sich begeistern, sondern dass nur geschliffene Rhetorik die Volksmenge überzeugen , besser gesagt überreden kann, und dass sie jemanden braucht, dem sie zujubeln kann. Aber kaum entfernt sich dieser ein wenig, treten die Neider auf den Plan, um ihm mit der selben geschliffenen Rhetorik den Prozess zu machen. Seine objektiven Verdienste um das Gemeinwesen, z.B. Kriegsvermeidung, sind schnell vergessen. Agathons Verteidigungsrede erinnert an die des Sokrates, und hat auch die selbe Wirkung, nur dass ihm der Schierlingsbecher erspart bleibt, und er wenigstens sein nacktes Leben in die Verbannung hinüberretten kann.


Dieser Rückblende zu Agathons Vorgeschichte folgt der Verrat des Hippias. Agathon erfährt von Danaes moralisch zweifelhafter Vergangenheit und ergreift die Flucht aus Smyrna.

Hier wieder ein Kniff Wielands, dessen erklärtes Ziel es ist, die geheimsten Triebfedern der Entscheidungen und Handlungen seines Helden offenzulegen. Auf den Gipfel der Entrüstung bringt Agathon erst das Geständnis des Hippias, selbst Nutznießer von Danaes sinnlichen Qualitäten gewesen zu sein. Vor seiner Abreise hat Agathon noch Bedenken, macht sich Sorgen um die Gefühle der verlassenen Geliebten. Wieland deutet an, dass eine Aussprache zwischen den beiden eine andere Wendung herbeigeführt haben könnte. Aber die Eifersucht und die verletzte Eigenliebe, und zusätzlich der Zufall einem alten Bekannten zu begegnen, besiegelt die Abreise. Keine Rede also von Vernunftentscheidung oder Sieg der Tugend - dies an die Adresse der Moralisten.

Die vom Autor selbst so bezeichneten Parenthesen und Digressionen verhindern immer wieder, dass der Leser nur passiv eine Geschichte rezipiert. Auch wird nicht zuletzt dadurch die Geschichte aus dem vierten vorchristlichen Jahrhundert herausgehoben, und der Leser des 18. Jahrhunderts, dessen Erfahrung mehrfach direkt angesprochen wird, wird geradezu gezwungen, Verbindungen zur aktuellen Situation herzustellen.

Die Erfahrung rückt ins Zentrum, Agathons Erfahrung, die des Erzählers und die des Lesers.

"Wie mich izo wenigstens deucht, nachdem neue Erfahrungen mich auf neue, erweiterte Betrachtungen geführt haben ... " mit solchen Wendungen werden Veränderungen der Perspektiven angezeigt.

Aus den Erzählerkommentaren geht klar hervor, dass der Mensch nicht aus den Fehlern anderer lernt. Der wahrhaft weise, so Wielands Erzähler, wäre der Mensch, der aus seinen Fehlern, die grundsätzlich unvermeidlich sind, lernt, indem er nach Menschenkenntnis UND Selbsterkenntnis strebt, dass er selbst versucht, die Triebfedern seines Tuns zu erkennen. Erfahrung und Reflexion der Erfahrung, statt blindem Befolgen von Regeln, die weder der Persönlichkeit noch den Umständen angemessen sind. Daraus ergäbe sich die Hoffnung, zukünftig weniger Fehler zu machen.


Gerüstet mit den Erfahrungen aus Athen und Smyrna ergreift Agathon noch einmal die Gelegenheit sich politisch zu betätigen. Dionysos der Tyrann von Syrakus, so hört er, sei angetan von Platons Staatsphilosophie, die auch seinen Idealen entspricht. Er verspricht sich mehr Erfolg aufgrund seiner Erfahrungen und weil er glaubt, es nun nur mit dem selbstermächtigten Fürsten allein zu tun zu haben, den es zu beeinflussen gilt.

Die Taktik ist, den Tyrannen vom regieren abzuhalten. Fern aller Schwärmerei weiß Agathon, dass aus einem lüsternen Prinzen kein guter Regent werden kann, dennoch stellt er dessen eigentliche Macht nicht in Frage. Das hier gezeichnete Modell eines absolutistisch regierten Staatswesens ist aber ebenfalls weit entfernt vom Ideal. Nach guten Erfolgen für den gesamten Staat, fällt Agathon trotz aller Erfahrung und Vorsicht einer Hofintrige zum Opfer. Nicht Leistung, sondern Schmeichelei und Intrige bestimmen in solchem System Aufstieg und Fall der Akteure.

Agathon ist am tiefsten Punkt seiner moralischen Entwicklung angelangt. Und ausdrücklich weist der Erzähler darauf hin, dass nun eigentlich, aus seiner Sicht, alles gesagt ist was zu sagen war, und das alles Folgende nicht mehr dem Lauf der Natur und den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit entspricht.

Aus der Sicht des 18. Jahrhunderts hieße das nicht mehr und nicht weniger, als dass das frühaufklärerische Konzept von der Kraft der Vernunft und der bürgerlichen Tugend gescheitert ist. Der euphorische Optimismus ist verflogen. Hinter aller Tugend versteckt sich doch nur Eitelkeit und Eigenliebe, und mit dem verführbaren, bequemen Volk ist kein Staat zu machen.

Tarent, wohin es Agathon am Ende verschlägt, diese Republik von Händlern und Fabrikanten unter den Fittichen eines weisen Übervaters, in dem Politik nicht mehr notwendig ist, weil ohnehin jeder sich richtig verhält, ist ein utopischer Entwurf zur schlechten Gegenwart.

Dass aber am Ende sich nicht bloßer Pessimismus auf allen Ebenen ausbreitet, ist in der Dialektischen Konzeption des Romans begründet. Genauso wenig wie es das nur Gute gibt. gibt es auch nicht das nur Schlechte. Keine moralische Verfehlung ist so schlimm, dass sich nicht ein besserer Mensch daraus entwickeln könnte. Kein Tyrann ist so von Grund auf schlecht, dass sich in seinem Umfeld nicht auch Positives ereignen könnte.

Jede Enttäuschung Agathons ist, dem Wortsinn entsprechend, Befreiung von einer Täuschung, über die Welt, über die Mitmenschen, über sich selbst. Die Aufklärung, die dogmatische Strukturen aufzubrechen sich zum Ziel gesetzt hatte, war selbst im Begriff, in Dogmen zu erstarren. Wielands Darstellung der Geschichte des Agathon eröffnete eine neue Sichtweise auf die Aufklärung, die immer auch Selbstaufklärung bedeutet.

Nachdem Agathon alle notwendigen Entwicklungsphasen durchlaufen, die Ideale der Jugend durch Erfahrung und Reflexion relativiert, und sich an öffentlichen Belangen beteiligt hat, ist er dem Ideal des autonomen Individuums nahe, das sich aus allen dogmatischen Fesseln und eigenen Vorurteilen befreit, seine Freiheit aber in der Pflicht erkennt, Verantwortung für sich selbst und andere zu übernehmen. Er wird nicht zum hedonistischen Zyniker, er kann sich seine Ideale erhalten, wird nur desillusioniert in Bezug auf deren Verwirklichung. Die kann sich nur im dialektischen Verhältnis von menschlicher Perfektibilität und Korruptibilität schrittweise vollziehen. Daraus nährt sich Hoffnung.

Wieland als Vorreiter, der allerdings bald von der stürmenden und drängenden Horde überrannt wird, die seinen Hang zum Ausgleich nicht mehr teilt ...