Getrübte Wahrnehmungen.


Überlegungen zu einigen Phänomenen im Zusammenhang mit der Rezeptionsgeschichte der „Dritten Walpurgisnacht“ von Karl Kraus.

© Josef G. Pichler 2000


Mit aller Verständlichkeit sei es gesagt, daß ich mir wohl bewußt bin, unverständlich zu schreiben. Ich habe nie gezweifelt, daß die zeitgenössischen Idioten meinen Stil nicht verstehen. Ein wenig besser dürfte es mit den Idioten, die da kommen werden, bestellt sein, obschon ich sicherlich auch für die nicht schreibe.(Fackel 413, S.112.)


Dieser von Karl Kraus an den Tag gelegte Gestus der Unnahbarkeit ist wohl ebenso Bestandteil seiner Fackel-Ideologie (Pfabigan), wie die behauptete totale Unabhängigkeit und das scheinbare Ignorieren der eigenen sozialen, politischen, psychischen und geistesgeschichtlichen Voraussetzungen. Der Kampf des Satirikers gegen Dummheit und Bösartigkeit war für ihn ein absoluter, was ihm den Vorwurf eingebrachte, er habe auch jeglichen sozialen und politischen Zusammenhang der von ihm aufgedeckten Phänomene geleugnet oder ignoriert. Seine radikale Gleichsetzung von Ethik und Ästhetik, sein übersteigerter Subjektivismus, der dem Leser/Hörer die eigene (Gedanken-)Welt als die Einzige zu suggerieren versuchte, sein religiöses Verhältnis zur Sprache, wurden mittlerweile mehrfach zum Gegenstand einer Literaturwissenschaft, die sich längst von einer rein textimmanenten, ausschließlich nach ästhetischen Kriterien fragenden Vorgangsweise verabschiedet, und auch auf Widersprüchliches, oder von Kraus selbst stets negierte Zusammenhänge von Person und Werk hingewiesen hat.

Eine formale Methode, derer sich Karl Kraus bei seiner Kritik vorzugsweise bediente, waren Zitate - von ihm glossierte und kommentierte Zitate, die er aus diversen lokalen, überregionalen, auch ausländischen Zeitungen und Rundfunksendungen bezog. Dadurch, so meine ich, liegt seinen subjektiven, mehr oder weniger berechtigten polemischen Angriffen gleichsam eine objektive Ebene real existierender gesellschaftlicher Befindlichkeiten zu Grunde. Hat es nun für uns heute wenig Relevanz, wenn es sich dabei etwa um den in den ersten Fackelnummern angeprangerten Nepotismus in der medizinischen Fakultät der Wiener Universität handelt (womit nicht gemeint ist, dass es Nepotismus heute nicht mehr gibt), so verschieben sich die Dimensionen, wenn das Zielobjekt der Satire von so immens historischer Bedeutung ist, wie die Vorgänge in Deutschland im Jahre 1933. Das macht Die Dritte Walpurgisnacht 1 von Karl Kraus zu einem ungewöhnlichen Text, und zugleich dessen bisherige Rezeptionsgeschichte über weite Strecken zum Skandal.

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Eine detaillierte Darstellung der Entstehung und Überlieferung, sowie eine text- und editionskritische Betrachtung, liefert Jochen Stremmel 2. Hervorheben will ich hier aus später ersichtlichen Gründen den Zeitpunkt, das Ereignis, das für Karl Kraus die Initialwirkung für seine Absicht hatte, die Entwicklung in Deutschland zum Gegenstand eines Fackelheftes zu machen. In der im Juli 1934 erschienenen Fackel Nr. 890-905 zieht er, in einer der seltenen Beantwortungen eines Leserbriefes, Parallelen zwischen dem 01. August 1914 (Beginn des Ersten Weltkriegs) und dem 5. März 1933 3. Er nennt nicht den 30. Jänner 1933 (Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler), nicht den 24. März 1933 (Ermächtigungsgesetz - gab Hitler diktatorische Vollmachten), sondern den Tag der deutschen Wahlen zum Reichstag, bei der die nationalsozialistische Partei fast 44 Prozent der Stimmen bekam. Scheinbar waren es ein Schock für Kraus, in welchem Maß eine bestimmte Art von Politik, eine bestimmte Geisteshaltung in Deutschland mehrheitsfähig geworden war.

Die Menge an Material hätte das bis dahin umfangreichste Fackelheft ergeben, und bedeutete einen immens hohen Arbeitsaufwand über sechs Monate, was zu ungewöhnlicher Vorgangsweise führte: So sprach Kraus den Text des Manuskripts in ein Diktaphon. Mit den daraus gefertigten Typoskripten konnten alle Setzer der Druckerei Jahoda & Siegel arbeiten, nicht nur die beiden, die die kraussche Handschrift entziffern konnten.

Noch am 27. August 1933 beantwortete er eine Einladung von Sidonie Nádherný negativ: Leider momentan unmöglich da sonst arge Verzögerung hoffe bald...4. Er reiste dann auch bald, aber nicht weil seine Arbeit abgeschlossen war, sondern weil er sich knapp vor ihrer Fertigstellung dafür entschied, sie nicht zu publizieren, nachdem er schon vorher Zweifel an der Sinnhaftigkeit einer Veröffentlichung gehegt hatte 5. Ausschlaggebendes Moment für diese Entscheidung könnte die Ermordung des Autors Theodor Lessings auf tschechoslowakischen Boden gewesen sein, die zeigte, wie gefährdet Kritiker des Naziregimes auch fern von Deutschland waren 6.

Dass die Dritte Walpurgisnacht als Ganzes überhaupt je erscheinen konnte, und dass Manuskript und Druckfahnen nicht 1938 den Nazis in die Hände fielen, ist der Vorsorge von Karl Kraus selbst 7, und der Initiative von Heinrich Fischer zu verdanken, der 1952 diesen Text als ersten Band einer Kraus Werkausgabe herausgegeben hat.

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Mir fällt zu Hitler nichts ein 8. So lautet der erste Satz der Dritten Walpurgisnacht. Das ist nicht nur ein origineller Anfang, sondern wird zu einem der beiden Leitmotive des Textes. Der Ausdruck ist weniger eine rhetorische, sondern eine Gedankenfigur, eine Art von Unsagbarkeitstopos, eine neue polemische Technik: die Vortäuschung eines Versagens einem Phänomen gegenüber, angesichts dessen jede „ normale“ Polemik aus der Sicht des Autors eine Verharmlosung gewesen wäre.

Natürlich ist Kraus einiges zu Hitler eingefallen, lange vor und auch nach der Dritten Walpurgisnacht, bzw. der Juli-Fackel des Jahres 1934, in der er dann doch wenigstens (bearbeitete) Teile dieses Textes herausgab. Davon zeugt das Personenregister der Fackel, welches die früheste Äußerung zu Hitler bereits im Juni 1923 ausweist 9. Eine der vielen Bezugnahmen fällt besonders auf:

Das haben die Mädchen so gerne
und so träumt jetzt, in München, wo Hitler waltet, die deutsche Jungfrau den Frühling.10

Es folgt die Wiedergabe einer Heiratsannonce, in welcher ein junges, lustiges und tüchtiges Mädchen einen Metzgermeister oder Autobesitzer zu ehelichen wünscht. In Frage kommen nur Briefe mit Bild u. gew. Herrn, alles andere Papierkorb, schreibt die junge Dame, und Karl Kraus kommentiert:

Ich gäb was drum, wenn ich nur wüßt, wer der „gew. Herr“ gewesen ist. Offenbar einer der Gewaltigen. Jedenfalls ein Habebald der Mädchen, ein Haltefest der Möbel und ein Raufebold der Nation.

Das verweist auf das zweite Leitmotiv der Dritten Walpurgisnacht: Goethes Faust. Der Erweckung einer Nation und Aufrichtung einer Diktatur, die heute alles beherrscht außer der Sprache 11, meinte Kraus wohl nicht mit (polemischer) Imitation begegnen zu können, sondern nur mit Konfrontation der deutschen Katastrophe mit der deutschen Sprache auf ihrem höchsten Niveau. Bei seinem quasireligiösen Sprachverständnis ist aber auch vorstellbar, dass er wirklich an die Präformation historischer Ereignisse in literarischen Kunstwerken glaubte. Die frühe Erwähnung der drei Gewaltigen aus Faust II lässt jedenfalls darauf schließen, wie lange Karl Kraus Goethes Drama schon als Schablone für die Betrachtung nationalsozialistischer Umtriebe präsent war.

In weitaus geringerem Maß griff Kraus auch auf Shakespeares Dramen Macbeth, König Lear und Hamlet zurück, deren blutige Handlungen für ihn ebenfalls mit der Entwicklung in Deutschland korrespondierten. Dennoch machen die literarischen Zitate nur zehn Prozent der insgesamt etwa 1300 Zitate in der Dritten Walpurgisnacht aus 12. Ihre überwiegende Mehrheit beschreibt damals aktuelles. Wegen fehlender Quellenangaben sind sie zwar schwer nachweisbar, doch besteht kein Grund anzunehmen, Karl Kraus hätte sich das alles aus den Fingern gesogen. Dass diese Ausschnitte deutscher Wirklichkeit des ersten halben Jahres (!) nationalsozialistischer Herrschaft repräsentativ, und nicht etwa nur Randerscheinungen sind, dafür bürgen die Namen derer, die beim Wort genommen werden: Hitler, Goebbels, Göring, Benn, Platen, Heidegger und andere - die politische und kulturelle Elite des „ erwachten“ Deutschlands.

Ich will hier auf den Inhalt der Dritten Walpurgisnacht im Detail nicht eingehen, sondern nur kurz umreißen, was Karl Kraus in den ersten Monaten des Jahres 1933 (man kann es nicht oft genug betonen) von Wien aus, durch Zeitungslektüre (auch der nationalsozialistischen Zeitungen) und Hören von Rundfunksendungen beobachten konnte, nämlich

Ich behaupte, dass das von jedem Leser und jeder Leserin der Dritten Walpurgisnacht nachvollziehbar ist, auch ohne einen anderen Text von Karl Kraus zu kennen. Genauere Kenntnis des krausschen Œuvres erhellt zusätzlich, warum er so formuliert, was es mit den literarischen Zitaten, mit den Attacken auf die Sozialdemokratie bzw. dem Eintreten für Dollfuß auf sich hat.

Die beiden letztgenannten Punkte und die heftigen Angriffe gegen die Presse, die, wie Kraus meinte, den Nationalsozialismus nicht nur begünstigt, sondern geradezu erzeugt hatte 14, kann man als gute Gründe dafür ansehen, dass, als im Juli 1994 in der Fackel Nr. 890 wichtige Teile der Dritten Walpurgisnacht veröffentlicht wurden, die Reaktion praktisch gleich Null war. Dass die Fackel von anderen österreichischen Printmedien ignoriert wurde, hatte schon Tradition, und nach den Ereignissen des 12. Februar 1934 (Aufstand des sozialdemokratischen Schutzbundes von Heimwehr und Polizei blutig niedergeschlagen) immer noch für Dollfuß einzutreten, besiegelte endgültig die totale Ablehnung durch die Linke (Brecht, Benjamin etc.).

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1952 erschien die Buchausgabe der Dritten Walpurgisnacht, von Heinrich Fischer im Kösel-Verlag in München herausgegeben. Warum München? Warum nicht Wien? Dort gab es mit Oscar Pollack einen Chefredakteur der Arbeiter-Zeitung, der auf Grund früherer Fehden mit Karl Kraus versicherte, er werde alles verhindern, was die Gemeinde Wien für Kraus tun wolle. Bezeichnend für das Verhältnis zwischen Politik und Presse war, dass er mit seiner Einschüchterungstaktik erfolgreich war, und sozialdemokratische Politiker wie Bürgermeister Körner, Vizebürgermeister Honay und Stadtrat Afritsch - trotz gegenteiliger Äußerungen gegenüber der Karl-Kraus-Gesellschaft - in der Praxis nichts für eine Herausgabe der krausschen Werke in Wien taten. 15

Jedenfalls war mit der Münchner Ausgabe ein Buch erschienen das

    vom Erkenntnisstand des Jahres 1933 ein Bild deutscher (und österreichischer) Wirklichkeit und Möglichkeit entwirft, in das sich die Wirklichkeit der nächsten zwölf Jahre ohne Schwierigkeiten einfügen lässt;

    die in ihm dargestellten Ereignisse, ihre Tendenz und ihre unberührte Wahrnehmung als Resultat einer Entwicklung begreift, für die es eben die Institution bürgerlicher Öffentlichkeit verantwortlich macht, der es 1952 in Gestalt von Rezensionsexemplaren vorliegt;

    sich kritisch, polemisch und satirisch mit der Rolle einiger Figuren in der NS-Öffentlichkeit befasst, die sich 1952 in der bundesrepublikanischen wieder eingerichtet hatten, und

    sich infolgedessen, weniger zufällig als bezeichnend, im Jahre seines Erscheinens einem Buch wie Platens „Der Wahrheit eine Gasse“ (Auflage 1952: 35.000 - Auflage der „Dritten Walpurgisnacht“: 3000) gegenübersieht, in dem der Autor erklärt: „ Niemand, behaupte ich, konnte damals die Entwicklung voraussehen, die später eingetreten ist“. 16

Hinzu kommt, dass die Dritte Walpurgisnacht mit ihrem Thema eine schon eher gefühllose als wunde Stelle des deutschen Nationalbewusstseins berührt, die weniger von einer Aufarbeitung der Vergangenheit als von ihrer Verdrängung zeigt, dass sie aber zum einen durch ihr Analysematerial (Dokumente aus den ersten zehn Monaten nationalsozialistische Herrschaft) beweist, zu welchen Untaten schon 1933 die Nazis, und zu welchen Einsichten im Sommer dieses Jahres jemand fähig war, der sich nicht blödmachen lassen wollte, und dass sie zum andern durch die ihr zu Grunde liegende Überzeugung, die Organisationsstruktur der bürgerlich-liberalen Öffentlichkeit sei verantwortlich für das Emporkommen des Nationalsozialismus, offenbar tatsächlich den Nerv einer ähnlich verfassten Öffentlichkeit getroffen hat. 17 Anders lässt sich der unablässig wiederholte Vorwurf, Kraus sei zu Hitler (oder zum Faschismus) nichts eingefallen, nicht erklären.

Über die Reaktionen im deutschsprachigen Feuilleton auf dieses Buch gibt ebenfalls Jochen Stremmel ausführlich Auskunft 18. Deren Tendenz will ich hier an einigen Beispielen zur Darstellung bringen.

Die scheinbar nicht geringe Zahl von etwa 40 Rezensionen in der deutschsprachigen Presse wird dadurch relativiert, dass in der BRD nur drei in wichtigen, überregionalen Zeitungen erschienen sind, und durch deren Qualität, die dem besprochenen Text vielfach nicht gerecht wird.

Bei Erich Pfeiffer-Belli19 zeichnet sich schon im Titel Krankengeschichte des Dritten Reiches eine bereits damals betriebene Mythologisierung der Naziherrschaft ab. Der Hinweis auf die Mitschuld der ganzen Welt und auf die dem Naziterror ebenbürtige Unterdrückung der Menschen im anderen Deutschland wirft ein Licht auf den damals aktuellen Mainstream des Diskurses. Das Lebensgefühl der Deutschen des Jahres 1933 wird mit hilflos, unglücklich, unfrei, und geängstigt dargestellt, ein glatter Widerspruch zum Wahlergebnis des 5. März 1933. Zwar endet die Besprechung Pfeiffer-Bellis mit pathetischem Lob 20, welches allerdings zur hohlen Phrase wird, angesichts des Umstandes, dass der Rezensent sich auf Einzelheiten des Textes nicht einlässt, und mit keinem Wort die von Kraus behandelte Rolle der Presse, oder der mit dem Naziregime kollaborierenden Schriftsteller und Intellektuellen erwähnt.

Paul Schallück 21 bezieht sein Urteil über die Dritte Walpurgisnacht ausschließlich aus den Anmerkungen des Herausgebers Fischer, und meinte scheinbar überdies, dass es im Faust-Drama nur eine Walpurgisnacht gibt, Karl Kraus den Ersten Weltkrieg für die Zweite Walpurgisnacht gehalten, und sich so der Titel ergeben habe. Zurückhaltend unbestimmt schreibt er auch von einer anderen Parole. Die Erinnerung daran, dass diese eben Juda verrecke! gelautet hatte, hält er wohl seinen Lesern für nicht zumutbar.

Die Rezension von Willy Haas 22 stellt die Dritte Walpurgisnacht als letzte Nummer der Fackel dar, und behauptet, Kraus habe sich hier bloß wieder in persönliche Ranküne verzettelt. Er zitiert den ersten Satz des Buches und meint, die folgenden 300 Seiten erbringen nicht unbedingt den Gegenbeweis. Die dokumentarische Dimension des Textes wird eingeengt auf jene relativ harmlosen Zeiten, da der Judenboykott noch offen durch die Straßen tobte, und die Geschäfte demoliert wurden. Das ist keine Rezension, sondern üblen Nachrede!

In Österreich melden sich mit Alfred Polgar 23 und Edwin Hartl 24 zwei Kraus-Kenner zu Wort, was sich wohl tuend auf die Qualität ihrer Besprechungen auswirkt. Ein Unterschied besteht allerdings darin, dass Polgar nur die Deutschland-Bezüge der Dritten Walpurgisnacht herausstellt (z. B. Gottfried Benn), während Hartl auch auf die Stellen eingeht, in denen Kraus auf österreichische Verhältnisse zielt (z. B. liberale österreichische Presse).

Kurios ist, dass die Wiener Arbeiter-Zeitung ganze neun Jahre nach Erscheinen des Buches eine Rezension bringt 25. Die Begründung ist, daß wirklich bedeutende Werke oft erst Jahre nach ihrem Erscheinen in unsere Zeit hineinreifen oder, richtiger gesagt, erst abwarten müssen, bis ihre Zeit heranreift . Ist es auch eine Frage der Reife, dass der Verfasser unerkannt bleiben will, und mit dem Pseudonym „ Walden“ unterzeichnet?

Im Überblick stellen sich die Besprechungen der Dritten Walpurgisnacht in der deutschsprachigen Presse so dar:

Eine „Blütenlese“ aus dreißig Jahren nach Erscheinen der Buchausgabe zeigt, wie wenig sich die Dritte Walpurgisnacht, die krausschen Intentionen und Argumentationszusammenhänge, im Bewusstsein maßgeblicher Intellektueller verankern konnten. Der erste Satz des fast 300 Seiten umfassenden Textes wurde geradezu als Einladung zu Fehlinterpretation und zum Teil gehässiger Falschinformation und Unterstellung aufgefasst:

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Wenn man nun meint, eine literaturwissenschaftliche Auseinandersetzungen mit der Dritten Walpurgisnacht habe, gestützt auf Sachkenntnis (der krausschen Werke) und gründlicher Analyse des Textes, dessen Qualitäten angemessen zur Darstellung gebracht, stimmt das nur bedingt. Sie hat spät eingesetzt, ist, gemessen an der Brisanz des Gegenstandes, zahlenmäßig gering, und zudem kommen gerade aus dieser Richtung Töne, die an Niveau nicht mehr zu unterbieten sind. Eine Übersicht gibt wiederum Jochen Stremmel 26, der mit seiner Arbeit selbst einen positiven Höhepunkt germanistischer Arbeiten über die Dritte Walpurgisnacht markiert.

Deren absoluter Tiefpunkt stammt aus der Feder des Literaturprofessors und späteren Verlagsleiters Fritz J. Raddatz:

Karl Kraus schwieg. (...) Das Buch schweigt 300 Seiten lang. (...) Nein, dieses Buch ist erschreckend, diese wortreiche Leere, die Banalität der „wer weiß etwas auf wen“-Polemik, die sich wieder an Personen verbeißt, ob Benn oder Bartels oder Binding, das alphabetische Verzeichnis der Reichsschrifttumskammer durch. Was heißt hier eigentlich „mir fällt zu Hitler nichts ein“-sitzen wir ständig im Kabarett, wo jemanden auf jemanden etwas einfallen soll? Werner Finck fiel etwas ein mit seinem berühmten „Heil -wie war doch gleich der Name?“ War es das also was Karl Kraus sagen wollte, der sogar ein solches Buch mit dem Wörtchen „ mir“ begann? Nein, wie es in dem rührenden Nachwort der Neuausgabe heißt: „Die Möglichkeit der Überwältigung Deutschlands durch Hitler hatte er nicht geahnt“. Gütiger Himmel - geahnt! Nach welcher braunen Blume wird hier gesucht? Nein, die „Dritte Walpurgisnacht“ des Karl Kraus ist eine intellektuelle Bankrotterklärung: ihm fiel zum Faschismus nichts ein. Dieses Buch saust vom leeren Schnurren einer Koketteriemaschine; da bohrt einer - aber der Zahn ist schon weg, der Kiefer, das ganze Gesicht. Macht nichts - worauf kommt ein Literat? Es gibt immer zwei Lösungen: er schreibt was drüber („ ich macht aus dir eine Kurzgeschichte“), oder er schreibt nichts drüber. Karl Kraus bringt es fertig, beides in einem zu tun. 27


Das Schlimme ist, dass diese Anwürfe nicht einmalige „Ausrutscher“ von jemanden sind, der die Dritte Walpurgisnacht nicht gelesen zu haben scheint, sondern, durch ihre Vor- und Nachgeschichte, eher als ein Teil einer Kampagne gegen Kraus erscheinen, besonders gegen einen Text von ihm, der im Nachkriegsdeutschland vielen peinlich sein musste.

Bereits 1966 hatte Raddatz in einem Aufsatz, in dem es von falschen Zitaten und nachweislich unrichtigen Behauptungen nur so wimmelt, auf die Dritte Walpurgisnacht Bezug genommen 28. Auf die Richtigstellungen durch Friedrich Jenaczek 29 reagierte er nur insofern, als er in oben zitierten Artikel nun wenigstens den ersten Satz der Dritten Walpurgisnacht richtig wiedergibt. Zudem wird dem raddatzschen Pamphlet durch Joachim Kaiser in dessen Sendung Zeitschriftenschau im bayerischen Rundfunk vom 25. Juli 1968, und durch Ivo Frenzel in der Süddeutschen Zeitung 30 ein breites Podium geboten. Kaiser und Frenzel applaudierten nicht nur, sondern beteiligten sich noch mit hämischen Untertönen an Raddatz‘ Angriff gegen Kraus und die „Krausianer“. Neben Jenaczek 31 reagierten auch Edwin Hartl 32, Werner Kraft 33 und andere 34 mit Richtigstellungen und spitzer Polemik gegen Raddatz. Über den Stil der Auseinandersetzung ließe sich streiten. Fest steht, dass Raddatz sie vom Zaun brach, und dass er, die Dritte Walpurgisnacht betreffend, sachlich Unrecht hat, und Unrichtiges behauptet. Trotzdem hat er den abermals leicht korrigierten und erweiterten Aufsatz 1972 noch einmal veröffentlicht.35


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Exkurs 1:

Um die schon erwähnte Kritik von Karl Kraus an den Organisationsformen gesellschaftlicher Öffentlichkeit, wie sie auch in der Dritten Walpurgisnacht formuliert wird, transparenter zu machen, ist es notwendig, einen Blick in die Zeit vor dem und während des Ersten Weltkrieges zu werfen.

Ein Schlüsseltext von Karl Kraus ist der Vortrag In dieser großen Zeit, gehalten am 19. November 1914 und veröffentlicht als Fackel Nr. 404.

Gegen die herrschende Meinung, der Krieg habe eine Ära von heroischer Größe eingeleitet, bezeichnete Kraus diese Zeit als eine, in der geschehen muss, was man sich nicht mehr vorstellen kann, und könnte man es, es geschähe nicht.36 Verantwortlich für diesen allgemeinen Mangel an Vorstellungsvermögen war aus Kraus‘ Sicht in erster Linie die Presse. Diese Perspektive bringt der Volkswirtschafter und Zeitungswissenschaftler Karl Bücher auf den Punkt, der die Wirkung der Presse zu Beginn des 20. Jahrhunderts so beschreibt:

Tag für Tag lenkt sie die Köpfe von Tausenden in die gleichen Gedankenbahnen, wiederholt bei den verschiedensten Gelegenheiten und Zusammenhängen die gleichen Ansichten, Meinungen, Urteile mit der Selbstverständlichkeit unerschütterlicher Wahrheiten; schließlich meint der Leser in ihr nur seine eigenen Gedanken wiederzufinden. Hat ihn doch die alles sich unterwerfende Macht des Aktualitätsprinzips daran gewöhnt, über jedes neue Ereignis bereits ein fertiges Urteil in der Tagesübersicht oder dem Leitartikel derselben Nummer seiner Zeitung vorzufinden, die über dieses Ereignis die ersten Meldung bringt. Er behält gar nicht Zeit, sich ein eigenes Urteil zu bilden und dieses dann etwa noch an fremden Urteil zu prüfen und zu verbessern. Alles ist ihm bereits vorgedacht; in jeder Spalte, in jeder kleinen Notiz der Zeitung ist die Nachrichtenmitteilung mit Werturteilen, Ansichten, Empfindungen untermischt. Schließlich legt sich die fremde Auffassung wie ein Bleigewicht über die eigene Urteilskraft. Mag die aus flüchtiger Anschauung der Dinge geschöpfte Zeitungsmeinung noch so oberflächlich sein, sie wirkt mit der Suggestivkraft des Gedruckten, stumpft die Aufmerksamkeit ab und lähmt das selbstständige Denken. Dann wird die Anschauung, die zuerst nur ein einzelner oder wenige in der Presse vertraten, zur Massenanschauung, seine Moral zur Massenmoral, sein Streben zum Massenstreben aller oder doch der allermeisten Leser. Sich dieser Umklammerung durch das „ öffentliche Urteil“ zu entziehen, ist außerordentlich schwer; wer sich ausnahmsweise im selbstständigen Denken davon abzuweichen erlaubt, erscheint als Einspänner und Sonderling. 37

Die wesentlichen Punkte bei Bücher sind die mit der periodischen Erscheinungsweise verbundene Macht des Aktualitätsprinzips, und die Verquickung von Nachrichtenmitteilung und Meinungsäußerung, die er in jeder kleinen Notiz feststellte. Beides ging Hand in Hand mit einer endgültigen Kommerzialisierung der Zeitungen, die

den Charakter einer Unternehmung erhielt, welche Anzeigenraum als Ware produziert, die nur durch einen redaktionellen Teil absetzbar wird. 38

Dass das keine neue Entwicklung war, bezeugte Jahrzehnte früher schon Ferdinand Lasalle:

(...) Von Stund‘ an also wurden die Zeitungen, immer unter Beibehaltung des Scheins, Vorkämpfer für geistige Interessen zu sein, aus Bildnern und Lehrern des Volkes zu schnöden Augendienern der geldbesitzenden und also abonnierenden Bourgeoisie und ihres Geschmacks, die einen Zeitungen gefesselt durch den Abonnentenkreis, den sie bereits haben, die anderen durch den, den sie zu erwerben hoffen, beide immer in Hinsicht auf den eigentlichen goldenen Boden des Geschäftes, die Inserate. Von Stund‘ an wurden also die Zeitungen nicht nur zu einem ganz gemeinen, ordinären Geldgeschäfte, wie jedes andere auch, sondern zu einem viel schlimmeren, zu einem durch und durch heuchlerischen Geschäfte, welches unter dem Scheine des Kampfes für große Ideen und für das Wohl des Volkes betrieben wird. 39

Diese Phänomene meint Karl Kraus wohl auch, wenn er diagnostiziert: das Ausmaß der Katastrophe gehe auf anonyme, vollkommen verantwortungslose, nicht faßbare Mächte zurück, die in der modernen Gesellschaft wirksam seien.40 Das Luftschiff wird erfunden und die Phantasie kriecht wie eine Postkutsche, schrieb Kraus 41. Verschärfend wirkt der technische Fortschritt der Massenpresse, in der öffentliche Meinung im wahrsten Sinn des Wortes erzeugt wird, „verkauft“ werden allerdings die LeserInnen.

Edward Timms weist darauf hin, dass es sich hier nicht bloß um abstrakten Idealismus eines Einzelgängers handelt, sondern dass Karl Kraus geradezu neuere Theorien, etwa Walter Benjamins, Hans Magnus Enzensbergers und Marshall McLuhans vorwegnimmt 42 . Vier gesellschaftliche Gruppen sieht Kraus als für das Funktionieren dieses Apparates verantwortlich an:

- wirtschaftliche Interessengruppen

- Zeitungsbesitzer und Herausgeber mit kommerziellen und politischen Motiven

- Journalisten, die berufliches Können mit Verantwortungslosigkeit verbinden

- Schriftsteller und Intellektuelle, die bereitwillig ihre Feder für Propagandazwecke zur Verfügung stellen

Diese Zusammenhänge verdeutlichen, dass seine Kritik an der Presse und am Liberalismus weniger auf einem konservativen politischen Standpunkt, als vielmehr auf dem hellsichtigen Durchschauen des wirtschaftlichen Expansionsdrangs beruhte, der aller idealistischen Rhetorik zu Grunde lag. Und gegen seine intellektuellen Zeitgenossen, die Zeppelin und U-Boot als Triumph der Kultur feierten, zitierte er den humaneren Künstler und Wissenschaftler Leonardo da Vinci, der

(...) wegen der bösen Natur des Menschen, welche Art sie zu Ermordungen auf den Grund des Meeres anwenden würden, indem sie den Boden der Schiffe brachen und selbige mitsamt den Menschen versenkten, die drinnen sind - -,

sich weigerte, einen Entwurf für ein U-Boot zu veröffentlichen. 43

Kraus‘ Gegnerschaft zur Sozialdemokratie wurzelt in der Enttäuschung darüber, dass auch diese zu schwach war, um in den Nachkriegsjahren (1918ff.) für strukturelle Änderungen zu sorgen, sondern, im Gegenteil, sich genau derselben Strukturen bediente, gegen die sich ihre ideologische Rhetorik richtete.

Diese erwiesen (und erweisen) sich als immun gegen jegliche Veränderung auf politischer Ebene. Ob Monarchie, Republik, faschistische oder kommunistische Diktatur, gleich wirksam bleiben im Hintergrund die Mechanismen, die gesellschaftlichen Institutionen, die über Macht und Mittel verfügen, ihre im Grunde inhumane Wirkung zu verschleiern, und das Individuum, dem es an Vorstellungskraft mangelt, mit vorgegaukelter „Brot und Spiele - Idylle“ für ihre Zwecke zu missbrauchen. Das durchschaut, und mit seinem Werk sichtbar gemacht und bekämpft zu haben, ist eine Leistung von Karl Kraus, angesichts derer mir der Vorwurf, er wäre für gesellschaftliche Zusammenhänge blind gewesen, wenig gerechtfertigt zu sein scheint.


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Wie die hier (sehr verkürzt) dargestellte Rezeptionsgeschichte der Dritten Walpurgisnacht zeigt, gehen die wenigsten Autoren auf dieses doch zentrale Moment des Textes ein. Deswegen sind die Äußerungen Friedrich Dürrenmatts 44 und Michael Scharangs 45 besonders hervorzuheben, denen diese Intentionen nicht verborgen geblieben sind.

Dürrenmatt gelingt es, die Dritte Walpurgisnacht in den Kontext des krausschen Kampfes gegen mangelnde Einbildungskraft einzuordnen, der schon in Untergang der Welt durch schwarze Magie und Die letzten Tage der Menschheit zum Ausdruck kommt.

Scharang hingegen schlägt den Bogen in die Gegenwart (1969) und meint, wenn Kraus die Sprachlosigkeit gegenüber den Ereignissen in NS-Deutschland thematisiere, und zugleich reflektiere, was sich dennoch sagen lässt, werfe das Licht darauf,

(...) warum die Beschreibung des Faschismus in der „Dritten Walpurgisnacht“ mehr von dessen Wesen bloßlegt als die Beschreibungen, die nach dem Jahr 1945 mit ihren Faktensammlungen eher prahlten, als davor in ein Stocken zu geraten, das der Reflexion Platz gemacht hätte, ob man mit einer Sprache, die nur noch funktioniert, weil sie sich angewöhnt hat, so zu tun, als ob nichts gewesen wäre, über etwas reden kann, das nicht hätte sein dürfen. 46

Und er meint,

Keine dieser Gestalten des Wahnsinns ist nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches aus der Welt verschwunden, jede von ihnen erscheint inspiriert von einem noch mörderischeren selbstmörderischeren Willen. 47

Der „Spießerforderung nach billiger Erklärung“ stellt Scharang Kraus‘ Ablehnung gegen den säuberlichen Begriff „ Faschismus“ gegenüber, und stellt fest

Kraus gibt keine Stellungnahme, nimmt keine Definition vor, erteilt keine Auskunft; er lässt keine Lücke offen, in die das Bedürfnis nach Rationalisierung des Grauens einsteigen könnte, um dann verkünden zu können, das Werk dieses Autors biete unter anderem auch einen Halt. 48


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Exkurs 2:

Viele Debatten in der jüngeren Vergangenheit und der Gegenwart offenbaren das Dilemma, dass Sie insofern zu kurz greifen, als sie zu sehr nach bündigen Erklärungen heischen, anstatt auf die schon von Karl Kraus klar gesehenen mörderischen Strukturen des Geflechts aus Profitgier, menschen- und weltverachtenden ausbeuterischen Wirtschaftsexpansionismus, und, je nach Opportunität, hetzerischer oder beschwichtigender Berichterstattung einzugehen, wohl weil die Beteiligten selbst darin verstrickt sind, und Profit daraus ziehen.

Ob Historikerstreit, Wehrmachts- Goldhagen- , Walser- oder Sloterdijk-Debatte 49, ob Verharmlosung des Dritten Reichs, Relativierung der NS-Gräueltaten oder Mystifizierung der eigenen Vergangenheit auf der einen, oder Faschismusvorwurf auf der anderen Seite, schnell wird mit einfachen, bündig klingenden Erklärungsmustern argumentiert.

Angefacht werden diese „Diskurse“ von einer erst recht entfesselten Medienszene, die es versteht, zu jedem Anlass die „üblichen Verdächtigen“ zu befragen, und die so ungeahnte Summen umsetzt und verdient, die jene bezahlen, die in diesem undurchschaubaren Dickicht von Unterhaltung, Information, Werbung und politischen Parolen, kaum mehr zu kritischen Gedanken fähig sind, und die dargebotenen Worthülsen zuletzt für die eigene Meinung halten.

Selbst politische EntscheidungsträgerInnen müssen (?) dem Rechnung tragen. Werbeprofis ersetzen mit griffigen Slogans und ausgeklügelten Marketingstrategien einen notwendigen politischen Diskurs, mit dem Ergebnis, dass politische Entscheidungen nicht transparent gemacht, sondern einer Politik der Symbole, einem marktschreierischen Populismus Tür und Tor geöffnet werden. Und wie in den 30er-Jahren sind politische Gruppierungen im Aufschwung, die einfache Lösungen aller Probleme versprechen, nachdem nur erst einmal die „wahren Schuldigen“ an der Misere bloßgestellt, niedergekämpft und/oder vertrieben sind.

Wie schnell und einfach sich immer wieder neue Feindbilder konstruieren, oder alte sich wiederbeleben lassen, sieht man in jedem Wahlkampf, in dem wieder einmal über AusländerInnen, KünstlerInnen, Intellektuelle und/oder sogenannte Sozialschmarotzer hergezogen wird.

Der stereotypisch wiederholte Faschismusvorwurf ist dagegen kein adäquates Mittel. Die Frage ist nur, wann werden wieder einmal Worte zu Taten, wann kippt die offensichtlich zunehmende verbale Radikalität in einen Imperativ wie „...verrecke“? Wie kann sich eine Gesellschaft gegen gewalttätige Ausbrüche immunisieren, deren Funktionieren durch ein im Grunde gewalttätiges Wirtschaftssystem, und die Beschwichtigung der Masse durch bescheidene materielle Beteiligung am ökonomischen Fortschritt gewährleistet ist, wenn letzteres durch technischen Fortschritt trotz steigender Erträge immer weniger notwendig wird, wenn zunehmend der „Kostenfaktor“ Mensch aus dem System eliminiert wird? (Ökonomischer Sachzwang zur Rationalisierung, Sicherung des Wirtschaftsstandortes, Erhalten der Konkurrenzfähigkeit oder ähnlich, lautet die offizielle Sprachregelung.)


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Ein kraussches Spezifikum lässt sich auch an der Dritten Walpurgisnacht deutlich erkennen: Es ist nicht möglich den Gesellschaftskritiker Kraus vom literarischen Ästheten Kraus, den „Sprachfetischisten“ Kraus vom Humanisten Kraus, den radikalen Satiriker vom Menschen- und Schöpfungsfreund Kraus von einander zu trennen. Aus allen diesen Facetten gemeinsam ergibt sich erst die besondere Ausstrahlung von Autor und Werk. Das macht eine Auseinandersetzung damit nicht einfacher, sie könnte aber, sofern jemand die erforderliche Anstrengung auf sich nehmen will, eine Basis darstellen, um eine Kritikfähigkeit zu entwickeln, die sich nicht, zu Gunsten schnellen publizistischen (und finanziellen) Erfolges in einen zutiefst menschenverachtenden Apparat einspannen lässt, der als obersten Leitwert, im Sinne von Shareholder-value die Anhäufung riesiger Vermögenswerte zum Ziel hat, während am anderen Ende der sozialen Skala Menschen noch immer verrecken, weil es am Notwendigsten fehlt. Offen propagierte und betriebene Vernichtung, ideologisch verherrlichter Kriegswahn oder „technopathischer Expansionismus“ 50 kapitalistischer Systeme - das Ergebnis ist dasselbe: unwürdiges Leiden und Sterben von Millionen Menschen.

Zu bedenken ist auch: Mögen die Apparate und Institutionen die das betreiben, auch anonym und deshalb unangreifbar scheinen, sie konstituieren sich am Ende aus einer Summe einzelner Entscheidungen einzelner Menschen - gegen andere Menschen. Wir alle sind dazu angehalten, unsere Position im sozialen Getriebe auch in diesem Licht zu reflektieren.

Die Dritte Walpurgisnacht von Karl Kraus ist ein Beispiel für die Aktualität seiner Arbeit bis in unsrer Zeit, aber nicht das einzige. Deshalb ist es erfreulich, wenn immer wieder auch jüngere Germanisten, wie z. B. Daniel Kehlmann 51 sich damit beschäftigen, und das, wie ich hörte, im Robert-Musil-Archiv in Klagenfurt derzeit an einem Index zur Fackel gearbeitet wird, was vielen den Zugang zu dieser komplexen Materie erleichtern, und verhindern könnte, dass Karl Kraus als positiver Held auf einen Sockel „endgelagert“, oder als negativer Held von einem solchen gestoßen wird. Beides verstellt nämlich den Blick auf die wahren Qualitäten seiner Kritik.


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Bibliographie


Karl Kraus: Die Dritte Walpurgisnacht. Hrsg. von Heinrich Fischer, München 21955.

Karl Kraus: Briefe an Sidonie Nádherný von Borutin. 1913-1936. Band 2. Hrsg. von Heinrich Fischer und Michael Lazarus, München 1974.

Die Fackel, IX, Nr. 241 (Jänner 1908).

Die Fackel, XVI, Nr. 400-403 (Juli 1914).

Die Fackel, XVI, Nr. 404 (Dezember 1914).

Die Fackel, XVII, Nr. 413-417 (Dezember 1915)

Die Fackel, XX, Nr. 474-483 (Mai 1918).

Die Fackel, XXV, Nr. 622-631 (Juni 1923).

Die Fackel, XXVI, Nr. 657-667 (August 1924) .

Die Fackel, XXXVI, Nr.890-905 (Juli 1934).



Bücher, Karl: Das Zeitungswesen. In: Die Kultur der Gegenwart. Ihre Entwicklung und ihre Ziele. Hrsg. von P. Hinneberg, Leipzig, 2.Aufl.1912.

Bücher, Karl: Gesammelte Aufsätze zur Zeitungskunde. Tübingen 1926.

Dürrenmatt, Friedrich: Die Dritte Walpurgisnacht. In: Dürrenmatt: Gesammelte Werke. Zürich 1996, Bd. 7.


Ebner, Jeannie: Dokumentation einer Polemik. In: Literatur und Kritik 41 (1970), S.2.

Frenzel, Ivo: Das leuchtendste Rot dieses Sommers (Blick in Zeitschriften). In: Süddeutsche Zeitung (27./28. Juli 1968).

Hartl, Edwin: Karl Kraus war unbedeutend oder: Wie in der Bundesrepublik polemisiert wird. In: Die Presse 13.09.1968.

Hartl, Edwin: Verblendete Hellseher und Schwarzseher. In: Literatur und Kritik 41 (1970), S.3-21.

Jenaczek, Friedrich: Just dieses Milieu. Ideologie, Nationalismus und Ressentiment in der westdeutschen Literaturkritik. In: werkhefte, Nr.1 (Jänner 1968).

Jenaczek, Friedrich: Leserbrief. In: Süddeutsche Zeitung 03./04.08.1968.

Jenaczek, Friedrich: Protest. In: Literatur und Kritik, Heft 41, Jänner 1970, S.14-21. (Der Artikel wurde vorher vom Merkur zurückgewiesen.)

Kehlmann, Daniel: Präformation und Schweigen: Karl Kraus und das Dritte Reich. In: Mitteilungen aus dem Brenner-Archiv Nr.17/1998.

Kitzmüller, Erich: Gewalteskalation oder neues Teilen. Wien/München 1996.

Kraft, Werner: Es war einmal ein Mann... In: Merkur 246 (1968), S.926-935.

Lasalle, Ferdinand: Die Feste, die Presse und der Frankfurter Abgeordnetentag. Drei Symtome des öffentlichen Geistes. Berlin 1874.

Matejka, Viktor: Leserbrief. In: Literatur und Kritik 63 (1972), S.170.

Pfabigan, Alfred: Karl Kraus und der Sozialismus. Eine politische Biographie. Wien 1976.

Raddatz, Fritz J.: Die Asketin Naphta oder: Die Polemik des Juste Milieu. In: Sprache im technischen Zeitalter, Nr.20 (Oktober/November 1966).

Raddatz, Fritz J.: Der blinde Seher. Überlegungen zu Karl Kraus. In: Merkur 242 (1968), S.517-532.

Raddatz, Fritz J.: Der blinde Seher. Überlegungen zu Karl Kraus. In: Verwerfungen. Sechs literarische Essays. Frankfurt/Main 1972 (=edition suhrkamp 515), S.9-42.

Scharang, Michael: Kritik und Praxis im Angesicht der Barbarei. Zur Dritten Walpurgisnacht von Karl Kraus. In: Protokolle 1969, S.237-260.

Stremmel, Jochen: Dritte Walpurgisnacht. Über einen Text von Karl Kraus. Bonn 1982 (=Literatur und Wirklichkeit Bd. 23).

Timms, Edward: Karl Kraus. Satiriker der Apokalypse. Leben und Werk 1874-1918. suhrkamp taschenbuch 2995, Frankfurt/Main 1999.

Weitere Literatur zum Thema:

Die Fackel, XXXIV, Nr.876-884 (Oktober 1932).

Die Fackel, XXXV, Nr.888 (Oktober 1933).

Die Fackel, XXXVI, Nr.889 (Juli 1934).

Die Fackel, XXXVII, Nr.917-922 (Februar 1936).

Frei, Norbert: Karl Kraus und das Jahr 1934. In: Österreichische Literatur der dreißiger Jahre: ideologische Verhältnisse, institutionelle Voraussetzungen, Fallstudien. Hrsg. von Klaus Amann u. Albert Berger, Wien/Köln/Graz 1985, S.303-319.

Hartl, Edwin: Leserbrief: Erwiderung auf den Leserbrief Heft 45. In: Literatur und Kritik 46 (1970), S.380.

Müller, Manfred: Der blinde Kritiker oder: Die Karl-Kraus-Masern des Fritz J. Raddatz. In: Frankfurter Rundschau 20.04.1968.

Perl, Walter H.: Leserbrief. In: Literatur und Kritik 45 (1970), S.302.

Polácek, Josef: Egon Erwin Kisch über Karl Kraus. In: Literatur und Kritik 41 (1970), S.21-36.

Raddatz, Fritz J.: Antwort auf offenen Brief von Hilde Spiel. In: Merkur 246 (1968), S.967.

Spiel, Hilde: Erwiderung. In: Merkur 247 (1968), S.1067.

Spiel, Hilde: Offener Brief an Fritz J. Raddatz. In: Merkur 246 (1968), S.965-967.

Sternbach-Gärtner, Lotte: Karl Kraus in Frankreich. In: Literatur und Kritik, Heft 59 (1971) S.523-527.



1. Karl Kraus: Die Dritte Walpurgisnacht. Hrsg. von Heinrich Fischer, München 1952. Mir stand ein Exemplar der 2. Auflage 1955 zur Verfügung, worauf sich auch die Zitatangaben beziehen [=Kraus ( 1955)]

2. Stremmel (1982)

3. Die Fackel, XXXVI, Nr.890-905 (Juli 1934), S.55f.

4. Kraus (1974), S.647.

5. Kraus (1974), S.646.

6. Stremmel (1982), S.71.

7. Stremmel (1982), S72f.

8. Kraus (1955) S.9.

9. Die Fackel, XXV, Nr. 622-631 (Juni 1923) S.7.

10. Die Fackel, XXVI, Nr. 657-667 (August 1924) S.213.

11. Kraus (1955) S.9.

12. Stremmel (1982), S.115.

13. Vgl. die außenpolitischen Maximen der NSDAP, Karl Kraus (1955), S.145.

14. Kraus (1955), S.280.: „Die Presse hat den Nationalsozialismus erschaffen.“

15. Vgl. Matejka (1972), s.170f.

16. Stremmel (1982), S.164.

17. Ebd. S.3.

18. Ebd. S.162-219.

19. Rheinischer Merkur, 26.09.1952.

20. Ebd.: „In ihr ist Polemik zum Kunstwerk geadelt, das reinigende Kraft besitzt, hier mündet Tagesschrifttum in die Sphäre des Ethischen, erweist sich die Sprache als eine Gabe des Himmels im Kampf gegen die Hölle.“

21. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.01.1953.

22. Tagesspiegel, 01.03.1953.

23. Wiener Kurier, 06.12.1952.

24. Salzburger Nachrichten, 24.02.1953.

25. Arbeiter-Zeitung, 24.09.1961.

26. Stremmel (1982), S.187ff.

27. Raddatz (1968), S.531.

28. Raddatz (1966)

29. Jenaczek (1968 a)

30. Frenzel (1968)

31. Jenaczek (1968 b) und Jenaczek (1970)

32. Hartl (1968) und Hartl (1970 )

33. Kraft (1968)

34. Eine Bibliographie dieser Polemik bringt Ebner (1970)

35. Raddatz (1972)

36. Die Fackel, XVI, Nr. 404 (Dezember 1914), S.1.

37. Bücher (1912), S.547f.

38. Bücher (1926), S.21.

39. Lasalle (1874), S.15.

40. Die Fackel, XVI, Nr. 400-403 (Juli 1914). S.58.

41. Die Fackel, IX, Nr. 241 (Jänner 1908). S.14.

42. Timms (1999), S.374.

43. Die Fackel, XX, Nr. 474-483 (Mai 1918). S.40.

44. Dürrenmatt (1996)

45. Scharang (1969)

46. Scharang (1969), S.258.

47. Ebd. S.259.

48. Ebd. S.256.

49Zu den einzelnen Debatten verweise ich auf das Online-Archiv der Zeit im Internet unter http://www.zeit.de und die Suche mit den entsprechenden Stichwörtern.

50. Kitzmüller (1996). Mit diesem Begriff bezeichnet Erich Kitzmüller jenen in der westlichen Kultur eingebaute Code, der uns letztlich zu Akten kollektiven Selbstmords treibt, die sich zuerst an den ökologischen Katastrophen, aber auch in zunehmender Kommunikationsunfähigkeit, Vereinzelung und Kommerzialisierung selbst der persönlichsten Lebensbereiche sichtbar werden, und auch daran, das weniger „entwickelte“ Länder gerade das jeweils Verheerendste der reichen westlichen Zivilisation für sich selbst anstreben.

51. Kehlmann (1998). Daniel Kehlmanns Aufsatz behandelt die Funktion der literarischen Zitate in der Dritten Walpurgisnacht vor dem Hintergrund des krausschen Sprachverständnisses.