SELBSTMORD ODER „BÜRGERDÄMMERUNG“?

Einige Überlegungen zu Franz Kafkas Erzählung

„DAS URTEIL“.

© Josef G. Pichler 1997


1. Einleitung.

Die Niederschrift der Erzählung Das Urteil ereignete sich in der Nacht vom 22. zum 23. September 1912, zwischen 10 Uhr abends und 6 Uhr in der Früh. Ereignete sich ist, wenn man Franz Kafkas eigenen Aufzeichnungen glaubt, durchaus der passende Ausdruck, denn, so schreibt er in seinem Tagebuch, die Geschichte sei wie eine regelrechte Geburt mit Schmutz und Schleim bedeckt aus mir hervorgekommen. Ungewöhnlich oft erwähnt und kommentiert Kafka in den Tagebüchern und in Briefen die Erzählung, und er, der sonst seinen Werken so kritisch gegenüberstand, sah seinen persönlichen Durchbruch als Schriftsteller darin:

Nur so kann geschrieben werden in einem solchen Zusammenhang, mit solcher Öffnung des Leibes und der Seele.

Er schreibt aber auch in einem Brief an Felice Bauer:

Findest Du im "Urteil" irgendeinen Sinn, ich meine irgendeinen geraden, zusammenhängenden, verfolgbaren Sinn? Ich finde ihn nicht und kann auch nichts darin erklären. Aber es ist vieles Merkwürdig daran.

Später behauptet er nochmals: Das "Urteil" ist nicht zu erklären. Das klingt sehr endgültig und ist ein Hinweis darauf, daß Kafka gerade das Rätselhafte, das nicht logisch-kausal Nachvollziehbare als wesentliches Kriterium eines gelungenen literarischen Textes betrachtet hat.

Es läßt sich zwar auch auf einen gewissen Zusammenhang zwischen dem Urteil und der psychobiographischen Situation Kafkas schließen, doch bleibt festzuhalten, daß eine Erzählung als literarisches Produkt nicht (nur) durch außerliterarische Bedingungen und Bezüge bestimmt werden kann.

Martin Walser hat einen gangbaren Weg aufgezeigt, wie man durch genaue Analyse der formalen Besonderheiten in Kafkas Werken, diese durchaus erhellen kann, ohne sich gleich in interpretatorische Abenteuer zu stürzen, die sich auf alles Mögliche, aber nicht auf den Text selbst beziehen. Obwohl sich Walser nicht mit dem Urteil beschäftigt, sondern sich in seiner Analyse auf Kafkas Romane beschränkt, verdanke ich ihm viele Anregungen für meine Arbeit.


2. Form versus Inhalt.

Ein junger Kaufmann sitzt an einem schönen Sonntagvormittag am Fenster seines Zimmers. Er hat gerade einen Brief an einen Freund geschrieben und denkt noch darüber nach, dann geht er in das Zimmer seines Vaters um ihm davon zu berichten. Bald darauf verläßt er überstürzt das Haus um sich von einer nahen Brücke in den Fluß zu stürzen.

Das ist, kurz gerafft, der Inhalt der Erzählung, der einige Rätsel aufgibt. Es beginnt mit einer realistischen Beschreibung der Umgebung des Georg Bendemann, des Hauses, der Aussicht aus dem Fenster mit Blick auf den Fluß, eine Brücke und das gegenüberliegende Ufer. Die sich im Anschluß an diese Szene entfaltende Handlung scheint durchgängig zu sein, die erzählte Zeit entspricht der Erzählzeit. Die retardierenden Momente (z.B. das Nachdenken über den Freund oder den Tod der Mutter) werden nur in der Form der erlebten Rede wiedergegeben, sind also Reflexionen Georgs, und finden statt während er in seinem Zimmer sitzt. Sie fallen also nicht aus der erzählten Zeit heraus. Die örtlichen Veränderungen - Georgs Zimmer, Zimmer des Vaters, Straße, Brücke, Fluß - werden immer mit der Hauptfigur der Geschichte zusammen vollzogen. Es geschieht nichts, was außerhalb von Georgs Blickpunkt liegt. Das Ende der Geschichte, in dem den Eingangs erwähnten Gegenständen (Brücke, Fluß) wieder eine bedeutsame Rolle zukommt, betont noch den geschlossenen formalen Rahmen der Erzählung.

Das Unfaßbare ereignet sich durch plötzliche Brüche auf der inhaltlichen Ebene, wo gerade Gesagtes von einen Satz auf den anderen als unhaltbar, falsch, als Lüge sich herausstellt, aber ohne daß die jeweils neue Situation verständlich wäre und sich kausal herleiten ließe.

Im Folgenden will ich zu erörtern versuchen, wodurch Kafka diese Wirkung hervorruft.


3. Die Erzählperspektive.

Franz Kafka erzählt in der dritten Person und erzeugt so die Illusion eines auktorialen Erzählers, der aus räumlicher und zeitlicher Distanz von den Ereignissen berichtet. Doch die auktoriale Schilderung beschränkt sich auf den ersten Absatz, auf die Beschreibung von Georgs Umgebung. Mitten im ersten Satz des zweiten Absatzes vollzieht sich fast unmerklich ein Wechsel der Perspektive:

Er dachte darüber nach wie dieser Freund, mit seinem Fortkommen zu Hause unzufrieden, vor Jahren sich schon nach Rußland förmlich geflüchtet hatte.

Hier hört das objektive Berichten auf, es handelt sich schon um Reflexionen Georgs. Die Geschichte wird von nun an, mit Ausnahme des letzten Satzes ausschließlich aus der Sicht des jungen Bendemann dargestellt, und der Leser wird trotz beibehaltener Er- Erzählhaltung gezwungen, die Dinge wie Georg zu sehen. Man erfährt nur wie er denkt, die Außenwelt wird nur durch seine Sinne vermittelt, und durch seine Interpretation gefiltert.

Diese Enge der Perspektive allein erzeugt schon eine gewisse Spannung, vergleichbar etwa mit Szenen aus einem Film: eine Kamerafahrt die nur das zeigt was der Held sieht wenn er durch eine Landschaft oder ein Gebäude geht, und man als Zuschauer das Auftauchen von etwas Unheimlichem, Bedrohlichem förmlich erwarten kann. Kein Schnitt, kein Kameraschwenk, keine Totale gibt eine Hinweis darauf, was zu erwarten ist, worauf unser Held zutreibt.

Es gibt innerhalb der Erzählung zwar vage Vorausdeutungen, aber erst die Enthüllung im Text, die der Leser gleichzeitig mit dem Helden erlebt, entlarvt dessen Irrtümer oder Lügen. So erfährt man beispielsweise über das Verhältnis zum Freund in Rußland seltsam Widersprüchliches, das einem an einer wirklichen Freundschaft, mit Offenheit und gegenseitigem Vertrauen, zweifeln läßt. Erst die Enthüllung durch den Vater bringt Georgs Lebenslüge in Bezug auf diesen Freund ans Licht.

Auch die Gedanken an seine tote Mutter, die in der Form der eher kühlen Anteilnahme des Freundes vermittelt werden, stellen sich später als Teil von Georgs Verdrängungen heraus, der sich nicht offen eingestehen kann, daß der Tod der Mutter seine eigene Position stärkte, weil sie die des Vaters geschwächt hat. Diese Erkenntnis über die Zusammenhänge von Vorausdeutung und Enthüllung erschließt sich aber erst aus dem Gesamtüberblick der Erzählung, wenn man als Leser eine Position außerhalb des Protagonisten einnehmen kann.

Zur Verwirrung trägt auch bei, daß oft das verallgemeinernde Indefinitpronomen man verwendet wird, was Objektivität vortäuscht, aber eben bloße Deutung Georgs ist. So fragt er sich bezüglich des Freundes , was m a n einem solchen Manne schreiben sollte, den m a n bedauern, dem m a n aber nicht helfen konnte. Sollte m a n ihm vielleicht raten wieder nach Hause zu kommen? usw.

Auch die Verwendung des Konjunktivs - wenn Georg meint der Freund fände sich nicht mehr in der Heimat zurecht, litte an Beschämung, hätte dann wirklich keine Freunde mehr usw. - läßt die vorgebliche Freundschaft in eigenartigem Licht erscheinen. Der Konjunktiv deutet an, daß es zwar möglich, aber auch ganz anders vorstellbar wäre. Georg deutet seine Umwelt, und er deutet sie offenbar falsch. Er muß es auch, sonst müßte die Geschichte einen anderen Verlauf nehmen und Kafka hätte literarisch nicht das erreicht, was er wollte.

Martin Walser hat auf eine weitere Konsequenz dieser besonderen Erzählhaltung bei Kafka hingewiesen. Er meint durch die Spaltung in einen objektiven Erzähler und einem erlebenden Helden müßte das Ganze ironisiert, und der Held eine Karikatur werden. Er verweist auf Don Quichote, der ja auch seine Umwelt falsch deutet, und in seinen Reaktionen darauf zur tragikomischen Figur wird.

Und wirklich, berichtete ein objektiver Erzähler aus der Distanz von Georg und seinem konjunktivischen Lamento über den Briefverkehr mit dem Freund, man könnte ihn nicht mehr ernst nehmen. Und auch die Figur des Vaters, der in seiner schmutzigen Wäsche auf dem Bett herumspringt um seine Macht zu demonstrieren, wäre eine lächerliche Erscheinung.

Das heißt die Glaubwürdigkeit der Erzählung hängt eng mit der Erzählhaltung zusammen. Die Erlebnisse und Deutungen Georgs nachzuerzählen, sie durch einen Erzähler zu brechen, hieße ihre Wirkung zu zerstören. Aber gerade weil ein erklärender, objektiver Erzähler fehlt, eröffnen sich im Urteil wie in anderen Werken Kafkas so viele Möglichkeiten zur Deutung.


4. Bewegung ohne Fortschritt.

Eine weitere Besonderheit in der Erzählung ist die oft vorkommende Aufhebung einer gerade gemachten Aussage oder Behauptung, so daß man sich nie ganz schlüssig ist, was eigentlich passiert. Am Beispiel des Briefes an den Freund sei dies zunächst näher erläutert.

In der Eingangsszene der Geschichte liegt der Brief fertig vor, und wird in spielerischer Langsamkeit ins Kuvert gepackt. Gleich darauf wird erklärt, warum es eigentlich besser wäre den Brief nicht geschrieben zu haben. Der Freund könnte ja durch Georgs Wohlergehen dazu verleitet werden, eine Rückkehr ins Auge zu fassen und die alten Beziehungen wieder aufzunehmen - wofür ja kein Hindernis bestand - gleichzeitig wäre es aber kränkend für den Heimkehrenden sich mit großen Augen anstaunen zu lassen, seine Mißerfolg einzugestehen. Ja es wäre besser, dem Freund keine eigentlichen Mitteilungen zu machen, wie man sie ohne Scheu den entferntesten Bekannten schon machen würde. Weil der Freund keine Ahnung von den Veränderungen habe, solle man am besten damit fortfahren, ihm belangloses Zeug zu schreiben, um seine (falschen) Vorstellungen von der Heimat ja nicht zu trüben. Aber es kränkt die Verlobte, daß der Freund nichts von ihr erfährt." Na gut - dann schreib ich eben", scheint Georg zu denken. Diese so hektische Bewegung führt genau an den Anfang der Geschichte zurück: Der fertige Brief auf Georgs Schreibtisch.

Die Beschreibung des geschäftlichen Erfolges des jungen Bendemann folgt auch diesem Schema. Einerseits, so erfährt man, hat er seit jener Zeit (Tod der Mutter) sein Geschäft mit größerer Entschlossenheit angepackt, aber vielleicht spielen - was sogar sehr wahrscheinlich war- glückliche Zufälle eine weit wichtigere Rolle. Ist er nun ein tüchtiger Kaufmann oder nicht?

Auch Georgs Verhältnis zu seinem Vater spiegelt sich in Widersprüchen. Er geht zu ihm um von dem Brief zu berichten, was auf Vertrautheit schließen läßt, gleichzeitig erfährt man, daß er schon seit Monaten nicht in dessen Zimmer war. Es sei auch nicht notwendig, meint Georg, weil man ohnedies im Geschäft miteinander verkehre. Doch er weiß auch, daß der Vater dort ganz anders ist. Sie essen gleichzeitig aber nicht zusammen zu mittag, sie sitzen im gemeinsamen Wohnzimmer, jedoch jeder mit seiner Zeitung. Dabei hält sich der Vater nur eine alte Zeitung vors Gesicht und belauert seinen Sohn. Dieser ist voll überlegener Fürsorge, kniet sich aber sofort hin, wenn sein Vater nur leise und ohne Bewegung "Georg" sagt. Der Vater ist für Georg ein schmutziger, zerbrechlicher Greis, und zugleich ein Riese. Der alte Bendemann fordert nur eine Kleinigkeit von seinem Sohn (die Wahrheit über den Freund in Rußland), die aber letztendlich zum Anlaß aufgebauscht wird, das Todesurteil über ihn zu verhängen. Georg nimmt das Urteil ohne zu zögern an und vollstreckt es umgehend, als hätte er nichts anderes erwartet. Ja es scheint, als wäre er sich immer seiner Irrtümer und Illusionen im klaren gewesen, als sei er schon Zeit seines Lebens am Geländer gehangen, als sei alle Bewegung der Geschichte nur die des Loslassens.

Damit sollte gezeigt werden, daß Das Urteil sich nicht in dialektischer Bewegung entwickelt, welche die Widersprüche aufheben und - kausal nachvollziehbar- zu einer neuen Situation führen würde, sondern daß die Widersprüche aufeinanderprallen und sich gegenseitig aufheben, bis nur mehr die Frage übrig bleibt : Wer verurteilt hier wen, und warum?

Um mich dieser Frage anzunähern, möchte ich im nächsten Kapitel die Figuren der Erzählung einer genauen Betrachtung unterziehen.


5. Figuren, Ordnungen und Gegenwelten.

Das im vorigen Kapitel beschriebenen Aufeinanderprallen von Widersprüchen in denen das Werk erst entsteht, weil es das eigentliche Thema ist, ist typisch für Kafkas literarische Arbeit. In diesem Licht gesehen sind seine Figuren nicht empirisch, sondern Repräsentanten bestimmter Ordnungen, die der Helden und die einer jeweiligen Gegenwelt. Diese Ordnungen werden aber nicht objektiv beschrieben (zum fehlenden Erzähler vgl. Kap. 3), sondern erst in ihrem Aufeinandertreffen sichtbar.

So steht Georg Bendemann im Urteil für die Position des sich anpassenden Individuums. Er bleibt brav zu Hause, um in die Fußstapfen seines Vaters treten zu können, dessen Geschäft und auch dessen soziale Funktionen zu übernehmen. Dabei scheint er auch einigermaßen erfolgreich zu sein. Die Geschäfte entwickeln sich gut, er verlobt sich mit einem Mädchen aus gutem Hause, und will den Vater in fürsorglicher Obhut in seinen Haushalt aufnehmen.

So entspräche er dem bürgerlichen Idealbild des braven Sohnes, des tüchtigen Kaufmannes, der sein Leben meistert, wenn nicht plötzlich die Ordnung der Gegenwelt über ihn hereinstürzte, und sich in dieser Konfrontation die Brüchigkeit seiner eigenen Position immer deutlicher herausstellte. Wer steht nun aber für die Gegenwelt? Ist es der Vater, der immerhin das schreckliche Urteil über seinen Sohn verhängt? Dafür spricht auch, daß sich die entscheidenden Wendungen der Geschichte im Gespräch mit ihm, das eigentlich mehr einem Verhör gleicht, ereignen. Die Sache liegt aber nicht so einfach, weil man nicht rational begründen kann, warum der alte Bendemann seinen Sohn für etwas verurteilen sollte, von dem man sich vorstellen kann, er habe einst dasselbe gemacht, und eben auch beizeiten von seinem Vater Geschäft und soziale Funktion übernommen. Ein durchaus üblicher Vorgang. Neid und Eifersucht auf den Sohn, dessen Leben sozusagen beginnt, während sich das seine dem Ende zuneigt, wäre zwar verständlich, hätte aber ein zu geringes Gewicht als Motiv für eine derartige Verurteilung. Außerdem behauptet er, noch immer stärker und mächtiger zu sein als Georg.

Die Verlobte spielt eine untergeordnete Rolle, es bleibt also noch der Freund in Petersburg, mit dem Georg auf seltsame Weise korrespondiert. Dabei fällt natürlich die Mehrdeutigkeit dieses Wortes auf, das sowohl im Briefverkehr stehen als auch übereinstimmen heißen kann. Die Betonung, daß es sich um einen Jugendfreund handelt, und daß die Entfremdung sich proportional zu Georgs Erfolg entwickelt, kann ein Hinweis darauf sein, daß es sich um einen Teil seines Bewußtseins handelt, den er verdrängen, aufgeben muß, um sich den vorgefundenen Gegebenheiten seiner bürgerlichen Umwelt anpassen zu können. Daß der Freund keinen eigenen Namen hat, paßt auch in dieses Bild.

Th. W. Adorno hat über die Anpassung folgendes geschrieben:

Der Mechanismus der Anpassung an die Verhärteten Verhältnisse ist zugleich einer der Verhärtungen des Subjekts in sich: je realitätsgerechter es wird, desto mehr wird es selbst zum Ding, desto weniger lebt es überhaupt noch (...) Das Subjekt zerlegt sich in die noch immer fortgesetzte Maschinerie der gesellschaftlichen Produktion und einen unaufgelösten Rest, der als ohnmächtige Reservatsphäre gegenüber der wuchernden rationalen Komponente zur Kuriosität vorkommt.

Diese Kuriosität wäre im Urteil eben der Petersburger Freund, der dort abgeschnitten von jedem bürgerlichen Verkehr, russischen Revolutionen ausgeliefert sein Dasein fristet - Georgs verdrängtes, kindliches Ur- Ich. Dann wäre die Erzählung die Geschichte der Rückkehr dieser Verdrängung. Im selben Maß wie Georg sich den Verhältnissen anpaßt, und es ihm so gelingt wirtschaftliche und soziale Machtpositionen zu übernehmen, muß er gewisse Aspekte seiner Persönlichkeit verleugnen, und wird so schuldig sich selbst gegenüber, gegen sein eigentliches Menschsein.

Bedenkenswert in diesem Zusammenhang ist jedoch, daß der Freund in Petersburg nicht einfach den guten Menschen (was immer das auch sei) repräsentiert, sondern ebenfalls Kaufmann (wenn auch ein schlechter), und somit auch durchaus in den bürgerlichen Wertvorstellungen verankert ist. Vater Bendemann bezeichnet ihn sogar als Sohn nach meinem Herzen.

Wie kann überhaupt der an sich normale Fall eines Generationswechsels in einer Kaufmannsfamilie derart problematisch werden? Diese Verwirrung läßt sich nur unter dem Postulat einer Krise des Bürgertums, beziehungsweise des bürgerlichen Individuums begreifen. Daß diese sich gerade in den letzten Jahrzehnten des 19. und den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, also zu Lebzeiten Franz Kafkas, dramatisch zugespitzt hat ist evident. Große Enttäuschungen bereiteten langfristig den Boden: Die Erde ist nicht Mittelpunkt des Universums, die Naturwissenschaften zeigten, daß die den Menschen umgebende Wirklichkeit anders ist, als sie die Sinne vermitteln, ja nicht einmal mehr seiner selbst konnte sich der Mensch sicher sein, weil große Teile seines Bewußtseins der Vernunft nicht zugänglich sind, aber quasi aus dem Hinterhalt des Unbewußten sein Denken, Fühlen und Handeln beeinflussen.

Bei Ernst Mach wurde das Ich von einer vormals metaphysischen Größe mit direkter Verbindung zu Gott auf ein Bündel von Empfindungen reduziert, in Wechselwirkung mit Reizen von Außerhalb. Die gesamte sogenannte Moderne stellte sich als einzige Krise des bürgerlichen Wertgefüges dar: als Krise der religiösen Systeme, Krise der Vernunft, Krise der Wahrheit. Die Heilsgeschichte wird zu einer Geschichte als Anhäufung von Katastrophen.

Ein Ergebnis davon war die Ambivalenz zwischen den großen technischen und naturwissenschaftlichen Fortschritten und einem zunehmenden Hang zum Irrationalen, mit den daraus erwachsenden Polarisierungen in den politischen und sozialen Auseinandersetzungen innerhalb der Gesellschaft. Diese Umstände verlangten auch vom Schriftsteller, so er sich nicht willfährig zum Werkzeug ideologischer Hirngespinste machte, wenn schon nicht klare politische Stellungnahme, so doch reflektierendes Eingehen auf die Zeiterscheinungen.

Franz Kafka war als Zeitgenosse zweifellos sensibel genug, diese gesellschaftlichen Strömungen zu erfassen und literarisch zu verarbeiten. Durch seine Arbeit in der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt für das Königreich Böhmen war er auch besonders mit sozialen Problemen der Arbeiter konfrontiert, und interessierte sich stark für deren Probleme.

Auf das Urteil bezogen ergibt sich daraus folgende Betrachtungsweise: Angeklagter, urteilende Instanz, und Gegenwelt sind gleichermaßen Elemente einer bürgerlichen Gesellschaftsschicht. Die Schuld entsteht aus der Betrachtungsweise Georgs, es gäbe durch bloße Übernahme der bestehenden und schon erstarrten Machtstrukturen die Möglichkeit der Kontinuität. Doch es kann nicht so weitergehen wie bisher. Zu stark ist die Basis des bürgerlichen Selbstverständnisses von den Strömungen der Zeit unterspült. Daß die durch den Freund repräsentierte Gegenwelt auch keine akzeptable Alternative ist, verstärkt noch den Eindruck, hier stehe eine dem Untergang geweihte Gesellschaftsordnung mit ihren historisch unangemessenen Positionen im Mittelpunkt, und werde der Verurteilung und Strafe zugeführt. Besonders interessant ist, daß, weil auch die verurteilende Instanz Glied dieser Ordnung ist und das Urteil sofort angenommen wird, vielleicht doch so etwas wie Hoffnung auf die Möglichkeit und auch die Fähigkeit einer Veränderung angedeutet wird.


6. Schlußbemerkungen.

Von kaum einem anderen Autoren des 20. Jahrhunderts sind so viele biographische Details bekannt geworden wie von Franz Kafka. So informiert beispielsweise Hartmut Binder in seinem Kafka-Handbuch nicht nur über erste Schreibversuche und Leseverhalten Kafkas, was vielleicht relevant für sein späteres literarisches Schaffen wäre, sondern auch über sein Längenwachstum, Geschlechstreife, über Augenfarbe und Gewicht. Die Veröffentlichung der Tagebücher Kafkas und seines umfangreichen Briefwechsels, haben das ihrige dazu beigetragen. Und natürlich ist die Behauptung eines Zusammenhangs zwischen Leben und Werk eines Autors banal.

Die Fülle biographischer Details stellt für den Kafka-Interpreten vielleicht einen bequemen Weg dar, weil sich beinahe zu jedem Wort im Werk ein biographischer Bezug finden oder wenigstens konstruieren läßt. Aber man wird der literarischen Qualität des Werkes nicht gerecht, solange man nicht wenigstens versucht, die komplexen formalen und semantischen Beziehungen innerhalb der Texte zu entschlüsseln.

Am Beispiel des Urteils hielte ich es für vermessen, aus der Interjektion "Jesus!" der auf der Treppe überrannten Bedienerin mit großer Gelehrsamkeit ein Problem des Georg/Franz Bendemann/Kafka mit christlichem Gedankengut zu konstruieren. Ebensogut könnte einer behaupten, die Bedienerin als Vertreterin des Proletariats bringe in heimtückischer Weise die Bourgeoisie zu Fall, indem sie Georg auf der Treppe ein Bein stellt, und dann das ganze als prophetische Vorausahnung der russischen Oktoberrevolution darstellen. Es sei auch noch darauf hingewiesen, daß jede Gleichsetzung des Autors mit seinen Helden der Interpreten Todsünde ist.

Richtig hingegen wäre die Vorgangsweise aufgrund der im Text erkennbaren formalen und erzähltechnischen Besonderheiten und der inhaltlichen Bezüge einzelner Elemente auf die literarischen Schliche des Autors zu kommen und so neue Bedeutungsebenen zu erschließen. Für die Romane Kafkas hat Martin Walser gezeigt, wie es funktioniert, und auch Petr Pavel weist darauf hin, daß eine Erzählung etwas primär Literarisches und nichts Außerliterarisches ist.

Der Rahmen eines Proseminars ist zu eng, um die Problematik umfassend darzustellen, diese Arbeit sollte aber immerhin die Zielrichtung angegeben haben.


7. Bibliographie

KAFKA, Franz: Das Urteil. In: Das Urteil und andere Prosa, hrsg. von Michael Müller, Reclam Universalbibliothek Nr.9677, Stuttgart 1995.
KAFKA, Franz: Tagebücher. Hrsg. von Hans Georg Koch, Michael Müller und Malcolm Pasley, Textband, 1990.
KAFKA, Franz: Briefe an Felice und andere Korrespondenz aus der Verlobungs-zeit. Hrsg. von Erich Heller und Jürgen Born, Frankfurt/Main 1976.

ADORNO, Theodor W.: Soziologische Schriften I, Hrsg. von Rolf Tiedemann, Suhrkamp-Verlag, Frankfurt/Main 1972, S.60.
BINDER, Hartmut [Hrsg.]: Kafka- Handbuch in zwei Bänden. Bd. I, Stuttgart 1979.
PAVEL, Petr: Kafkas Spiele - Selbststilisierung und literarische Komik. Reihe Siegen, Bd. 108, Heidelberg 1992.
WAGENBACH, Klaus: Franz Kafka. Rowohlt Monographien 91, Reinbek bei Hamburg 1964.
WALSER, Martin: Beschreibung einer Form. Versuch über Franz Kafka. suhrkamp taschenbuch 1891, Frankfurt/Main 1992.